Verfassungsbeschwerde gegen Nichtigerklärung paritätischer Wahllisten in Thüringen unzulässig
Lorem Ipsum
© U. J. Alexander / stock.adobe.com

Der Thüringer Verfassungsgerichtshof hatte das thüringische Gesetz zur Einführung paritätischer Listen bei der Landtagswahl im Juli 2020 für nichtig erklärt. Eine dagegen beim Bundesverfassungsgericht eingelegte Verfassungsbeschwerde scheiterte nun mangels genügender Begründung. Insbesondere habe eine ausreichende Auseinandersetzung mit den getrennten Verfassungsräumen von Bund und Ländern gefehlt.

Verfassungsbeschwerde gegen Nichtigerklärung des Paritätsgesetzes

Auf der Grundlage eines Gesetzentwurfs der Landtagsfraktionen der Parteien Die Linke, SPD und Bündnis 90/Die Grünen beschloss der Thüringer Landtag im Juli 2019 das Siebte Gesetz zur Änderung des Thüringer Landeswahlgesetzes - Einführung der paritätischen Quotierung (Paritätsgesetz). In § 29 wurde ein neuer Abs. 5 eingefügt, in dem es hieß, dass die Landesliste abwechselnd mit Frauen und Männern zu besetzen ist, wobei der erste Platz mit einer Frau oder einem Mann besetzt werden kann. Die Landtagsfraktion der AfD wandte sich gegen das Paritätsgesetz im Weg der abstrakten Normenkontrolle. Der Thüringer Verfassungsgerichtshof (BeckRS 2020, 15854) erklärte das Paritätsgesetz für nichtig. Durch das Gesetz werde in verfassungsrechtlich verbürgte subjektive Rechte eingegriffen, ohne dass dieser Eingriff auf eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung gestützt werden könne. Die Beschwerdeführenden, zur Landtagswahl Wahlberechtigte und zum Teil Parteimitglieder sowie potentielle Kandidatinnen und Kandidaten einer Landesliste, sahen sich durch das angefochtene Urteil in verschiedenen Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten verletzt und legten Verfassungsbeschwerde ein.

BVerfG: Getrennte Verfassungsräume von Bund und Ländern

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Die Beschwerde sei mangels ausreichender Begründung unzulässig. Unter dem Grundgesetz verfügten die Länder über eine weitgehende Verfassungsautonomie. Art. 28 Abs. 1 GG enthalte nur wenige Vorgaben für die Verfassungen der Länder. Im Übrigen könnten sie, soweit das Grundgesetz nicht besondere Anforderungen statuiere, ihr Verfassungsrecht und auch ihre Verfassungsgerichtsbarkeit nach eigenem Ermessen ordnen. Im Bereich des Wahlrechts habe das Grundgesetz die Anforderungen, die an demokratische Wahlen zu den Volksvertretungen zu stellen seien, für die Verfassungsräume des Bundes und der Länder in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG jeweils gesondert geregelt. Dabei gewährleisteten die Länder den Schutz des subjektiven Wahlrechts bei Wahlen in ihrem Verfassungsraum grundsätzlich allein und abschließend.

Verfassungsbeschwerde zum BVerfG ausgeschlossen?

Bei den Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte handele es sich um Akte "öffentlicher Gewalt", die gemäß Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG der Bindung an die Grundrechte und grundrechtsgleichen Gewährleistungen unterliegen und grundsätzlich mit der Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG angegriffen werden könnten. Dabei könnten auch die Verletzung der Prozessgrundrechte einschließlich des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG oder des allgemeinen Willkürverbots sowie die Nichtbeachtung des Gleichberechtigungsgebots gemäß Art. 3 Abs. 2 GG geltend gemacht werden. Allerdings stelle sich die Frage, ob bei wahlrechtlichen Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte die Erhebung der Verfassungsbeschwerde zum BVerfG wegen der insoweit zu beachtenden Verfassungsautonomie der Länder gänzlich ausgeschlossen ist. Denn gehe man davon aus, dass die Gewährung des subjektiven Wahlrechtsschutzes auf Landesebene abschließend erfolgt, könnte dies der Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde zum BVerfG von vornherein entgegenstehen.

Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG und Demokratiegebot nur objektivrechtliche Gewährleistungen

Laut BVerfG fehlt es davon ausgehend an der ausreichenden Darlegung der Möglichkeit einer Verletzung von im Verfassungsbeschwerdeverfahren vor dem BVerfG gegen das Urteil des Thüringer Verfassungsgerichtshofs rügefähigen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Gewährleistungen der Beschwerdeführenden. Ein Verstoß des angegriffenen Urteils des Thüringer Verfassungsgerichtshofs unmittelbar gegen Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG komme von vornherein nicht in Betracht. Die Norm betreffe nur die Wahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Ebenso wenig könnten sich die Beschwerdeführenden im vorliegenden Verfassungsbeschwerdeverfahren unmittelbar auf Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG berufen, da es sich bei dieser Norm nicht um ein Grundrecht oder ein grundrechtsgleiches Recht, sondern um eine objektivrechtliche Gewährleistung handelt. Gleiches ergebe sich im Ergebnis hinsichtlich einer Verletzung des Demokratiegebots aus Art. 20 Abs. 1 und 2 GG. Nach dem Wortlaut der Norm handele es sich insoweit ebenfalls um eine objektivrechtliche Gewährleistung.

Ferner keine Auseinandersetzung mit Grundsatz der Gesamtrepräsentation

Darüber hinaus seien die inhaltlichen Ausführungen der Beschwerdeführenden zur Begründung der Ansicht, nur die paritätische Vertretung der Bürgerinnen und Bürger genüge den Anforderungen der repräsentativen Demokratie im Sinne von Art. 20 Abs. 1 GG, unzureichend, moniert das BVerfG weiter. Eine Auseinandersetzung mit dem aus dem Demokratieverständnis des Grundgesetzes abgeleiteten Grundsatz der Gesamtrepräsentation fehle. Nach diesem Repräsentationsverständnis, das der Thüringer Verfassungsgerichtshof seiner Entscheidung zugrunde lege, beinhalte das "freie Mandat" jedes Abgeordneten eine Absage an alle Formen einer imperativen, von regionalen oder gesellschaftlichen Gruppen ausgehenden inhaltlichen Bindung des Abgeordneten bei der Wahrnehmung seines Mandats. Seien die einzelnen Abgeordneten aber Vertreter des ganzen Volkes und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden, hätte es näherer Begründung bedurft, warum nur ein paritätisch zusammengesetztes Parlament dem Konzept der repräsentativen Demokratie im Sinne von Art. 20 Abs. 1 GG entsprechen solle.

Verstoß gegen Recht auf Gleichberechtigung nicht hinreichend dargelegt

Die Möglichkeit einer rügefähigen Verletzung des Rechts auf Gleichberechtigung aus Art. 3 Abs. 2 GG zeigten die Beschwerdeführenden ebenfalls nicht in ausreichendem Umfang auf. Es fehle insoweit schon an einer substantiierten Auseinandersetzung mit der Frage, ob vorliegend der Grundsatz der getrennten Verfassungsräume des Bundes und der Länder der Überprüfung der Entscheidung des Thüringer Verfassungsgerichtshofs am Maßstab des Art. 3 Abs. 2 GG entgegensteht. Darüber hinaus könne den Darlegungen der Verfassungsbeschwerde ein aus Art. 3 Abs. 2 GG abzuleitendes Verfassungsgebot der paritätischen Ausgestaltung des Wahlvorschlagsrechts nicht entnommen werden. Diesbezüglich werde nicht erörtert, ob Art. 3 Abs. 2 GG statt als Auftrag zur Herbeiführung einer mit einem paritätischen Wahlvorschlagsrecht verbundenen Ergebnisgleichheit lediglich als Gewährleistung tatsächlicher Chancengleichheit zu interpretieren ist. Außerdem setzten sich die Beschwerdeführenden nicht mit der Problematik auseinander, ob der Gesetzgeber bei der Durchsetzung des Gleichstellungsauftrags aus Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG über einen Gestaltungsspielraum verfügt, der einer Verengung des Regelungsgehalts der Norm auf eine verfassungsrechtliche Pflicht zum Erlass eines paritätischen Wahlvorschlagsrechts entgegenstehen könnte.

Verstoß gegen Willkürverbot ebenfalls nicht ausreichend dargelegt

Laut BVerfG ist dem Sachvortrag der Beschwerdeführenden, wenn die angegriffene Entscheidung einer Überprüfung an diesem Maßstab unterläge, auch kein Verstoß gegen das in Art. 3 Abs. 1 GG verankerte Willkürverbot zu entnehmen. Der Verfassungsgerichtshof gehe davon aus, dass das Paritätsgesetz in die Grundsätze der Freiheit und Gleichheit der Wahl sowie der Freiheit und der Chancengleichheit der Parteien eingreift. Diese Annahme erscheine verfassungsrechtlich jedenfalls nicht von vornherein unhaltbar. Außerdem vertrete er die Auffassung, dass auch dem Thüringer Verfassungsrecht das (Gesamt-)Repräsentationsverständnis des Grundgesetzes zugrunde liege, dem eine paritätische "Spiegelung" der Geschlechter im Parlament fremd sei, sowie dass die Integrationsfunktion der Wahl ein paritätisches Wahlvorschlagsrecht nicht erfordere und das in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 Thüringer Verfassung (ThürVerf) verankerte Gleichstellungsgebot das Paritätsgesetz nicht zu rechtfertigen vermöge. Die Beschwerdeführenden hätten nicht substantiiert dargelegt, dass diese Argumentation auf sachfremden Erwägungen beruht und der Thüringer Verfassungsgerichtshof insbesondere den Inhalt von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf in krasser Weise missdeutet hat.

Verletzung der Garantie des gesetzlichen Richters auch nicht genügend dargetan

Schließlich lasse der Sachvortrag der Beschwerdeführenden eine Verletzung der Garantie des gesetzlichen Richters gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht erkennen. Soweit sie eine Divergenzvorlage zur Klärung der Frage, ob Art. 2 Abs. 2 ThürVerf unabhängig von Art. 3 Abs. 2 GG ausgelegt werden dürfe, für notwendig hielten, liege dem die Vorstellung zugrunde, dass Art. 3 Abs. 2 GG ein auch bei Wahlen in den Ländern zu beachtendes Gebot paritätischer Ausgestaltung des Wahlvorschlagsrechts beinhaltet. Diese Auffassung sei aber mit Blick auf die getrennten Verfassungsräume von Bund und Ländern nicht ausreichend substantiiert vorgetragen und daher zur Begründung einer Vorlageverpflichtung unzureichend.

BVerfG, Beschluss vom 06.12.2021 - 2 BvR 1470/20

Redaktion beck-aktuell, 18. Januar 2022.