Ärztin 2017 zu einer Geldstrafe verurteilt
Mit Urteil vom 24.11.2017 sprach das Amtsgericht Gießen die Ärztin Kristina Hänel der Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft gemäß dem damaligen § 219a Abs. 1 StGB schuldig und verurteilte sie zu einer Geldstrafe. Hänel, die in ihrer Arztpraxis in Gießen Schwangerschaftsabbrüche vornimmt, wurde zur Last gelegt, eine frei zugängliche Internetseite betrieben zu haben, auf welcher sie Informationen über Schwangerschaftsabbrüche verbreitet habe. Dort habe sie eine Datei zur Verfügung gestellt, in welcher sowohl allgemeine Informationen zum Schwangerschaftsabbruch als auch Hinweise zu den in der Praxis vorgenommenen Methoden enthalten gewesen seien. Die von Hänel gegen ihre strafrechtliche Verurteilung eingelegten Rechtsmittel führten zu einer Abänderung des Rechtsfolgenausspruchs, blieben jedoch im Übrigen erfolglos.
BVerfG: Rechtsschutzziel durch Aufhebungen der Urteile und des § 219a StGB erledigt
Die Zweite Kammer des Zweiten Senats des BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde als unzulässig abgewiesen. Das Rechtsschutzziel der Beschwerdeführerin habe sich erledigt, da die unmittelbar angegriffenen Gerichtsentscheidungen und der mittelbar angegriffene § 219a StGB rückwirkend aufgehoben worden seien. Sie entfalteten gegenüber der Beschwerdeführerin damit keine belastenden Wirkungen mehr.
Keine Prüfung der Aufhebungsvorschrift
Der Eintritt einer erledigenden Situation wird laut BVerfG auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass die gesetzliche Vorschrift des Art. 316n Abs. 1 Nr. 1 EGStGB, mit der die auf § 219a StGB beruhenden strafgerichtlichen Urteile aufgehoben worden seien, ihrerseits im Rahmen eines möglichen Normenkontrollverfahrens für verfassungswidrig und in der Folge für nichtig erklärt werden könnte. Die Verfassungsbeschwerde sei ein außerordentlicher Rechtsbehelf, der dem Einzelnen in erster Linie zur Verteidigung seiner Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte diene. Zu diesem Zweck sei die Prüfung von Art. 316n Abs. 1 Nr. 1 EGStGB nicht erforderlich. Dieses Gesetz sei weder Gegenstand des Verfassungsbeschwerdeverfahrens, noch sei Hänel durch das Gesetz beschwert. Im Übrigen könne ein mögliches Normenkontrollverfahren nicht durch eine Inzidentprüfung des Art. 316n EGStGB innerhalb eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens ersetzt werden. Ansonsten würden die notwendige Abgrenzung und Balance zwischen den einzelnen Verfahrensarten unterlaufen werden, so das BVerfG.
Kein ausnahmsweises Rechtsschutzbedürfnis trotz Erledigung
Bei Erledigung des Rechtsschutzziels einer Verfassungsbeschwerde bestehe das Rechtsschutzbedürfnis nur in eng begrenzten Ausnahmefällen fort. Ein solcher Ausnahmefall liege hier nicht vor. So könne ein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis nicht unter dem Gesichtspunkt einer Wiederholungsgefahr angenommen werden. Denn der mittelbar angegriffene § 219a StGB sei ersatzlos aufgehoben worden. Künftige Verurteilungen der Beschwerdeführerin wegen Werbens für Schwangerschaftsabbrüche kämen daher nicht in Betracht, so das BVerfG. Ein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis könne weiterhin auch nicht damit begründet werden, dass sich die mit dem angegriffenen Hoheitsakt einhergehende Belastung auf eine Zeitspanne beschränke, in welcher die Beschwerdeführerin nach dem regelmäßigen Geschäftsgang eine BVerfG-Entscheidung kaum habe erlangen können und der Grundrechtsschutz der Beschwerdeführerin anderenfalls in unzumutbarer Weise verkürzt würde. Um eine solche Konstellation gehe es vorliegend nicht, so das Gericht.
Beschwerdeführerin umfassend rehabilitiert
Ein Rechtsschutzbedürfnis bestehe auch nicht deshalb fort, weil ansonsten die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders belastend erscheine. Für das nicht mehr geltende Recht bestehe kein über den Einzelfall hinausgehendes Interesse, seine Verfassungsmäßigkeit auch noch nach seinem Außerkrafttreten zu klären. Ferner haben die Karlsruher Verfassungsrichter ein schutzwürdiges Rechtsschutzinteresse unter dem Gesichtspunkt einer fortdauernden Beeinträchtigung ausgeschlossen. So müsse die Beschwerdeführerin nicht befürchten, dass sie trotz Aufhebung der strafgerichtlichen Urteile als verurteilte Straftäterin bezeichnet und dadurch stigmatisiert werden könnte. Der Gesetzgeber habe durch den Erlass von Art. 316n Abs. 1 Nr. 1 EGStGB die gegen die Beschwerdeführerin ergangenen strafgerichtlichen Entscheidungen aufgehoben. Dadurch sei sie umfassend rehabilitiert worden. Dies entspreche der erklärten Absicht des Gesetzgebers. Welche zusätzliche Rehabilitationswirkung von einer verfassungsgerichtlichen Feststellung der Verfassungswidrigkeit des § 219a StGB ausgehen sollte, erschließe sich nicht.
Keine fortdauernde Belastung wegen noch nicht erstatteter Geldstrafe
Auch der Umstand, dass die entrichtete Geldstrafe der Beschwerdeführerin noch nicht erstattet worden sei, führe ebenfalls nicht zu einer fortdauernden Belastung. Nach § 13 Abs. 1 der Einforderungs- und Beitreibungsanordnung (EBAO) stehe der Beschwerdeführerin ein Anspruch auf Rückzahlung der entrichteten Geldstrafe zu. Dass eine Erstattung nach dieser Vorschrift grundsätzlich von Amts wegen zu erfolgen habe und hier nach dem Vortrag der Beschwerdeführerin bislang noch nicht geschehen sei, ändere daran nichts. Es stehe ihr offen und sei ihr zumutbar, die von ihr bereits beantragte Rückforderung der Geldstrafe weiter zu betreiben und gegen ablehnende Entscheidungen den hierfür eröffneten Rechtsweg zu beschreiten.