Xavier Naidoo durfte als Antisemit bezeichnet werden
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Einer Referentin ist zu Unrecht die bei einem Vortrag getätigte Äußerung, der Sänger Xavier Naidoo sei Antisemit, dies sei strukturell nachweisbar, gerichtlich verboten worden. Dies hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, die Urteile aufgehoben und die Sache zurückverwiesen. Die Fachgerichte hätten die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit im öffentlichen Meinungskampf verkannt, von der bei öffentlich zur Diskussion gestellten, gesellschaftliches Interesse erregenden Beiträgen auch mit scharfen Äußerungen Gebrauch gemacht werden dürfe.

Sänger Naidoo bei Vortrag als Antisemit bezeichnet

Die Beschwerdeführerin hielt im Sommer 2017 als Fachreferentin der Amadeu-Antonio-Stiftung einen Vortrag zum Thema "Reichsbürger – Verschwörungsideologie mit deutscher Spezifik". Nach dem Vortrag äußerte sie auf eine Nachfrage, wie sie Naidoo einstufe: "Ich würde ihn zu den Souveränisten zählen, mit einem Bein bei den Reichsbürgern. Er ist Antisemit, das darf ich, glaub ich, aber gar nicht so offen sagen, weil er gerne verklagt. Aber das ist strukturell nachweisbar." Die Texte der beiden Lieder "Raus aus dem Reichstag" und "Marionetten" sowie Äußerungen Naidoos in einer Rede bei einer Versammlung sogenannter Reichsbürger vor dem Reichstag 2014 sowie in einem Interview mit einer Zeitschrift im Jahr 2015 sowie die daraus hervorgehende politische Einstellung Naidoos waren unter anderem Gegenstand eines Berichts des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus des Deutschen Bundestages sowie mehrerer Artikel in Zeitschriften und Zeitungen.

Fachgerichte maßen Persönlichkeitsrecht mehr Gewicht zu

Auf Klage des Sängers verbot das Landgericht Regensburg (GRUR-RS 2018, 49029) der Beschwerdeführerin zu behaupten, Naidoo sei Antisemit, dies sei strukturell nachweisbar. Die dagegen eingelegte Berufung wies das Oberlandesgericht Nürnberg (BeckRS 2019, 27333) zurück. Die Bezeichnung als "Antisemit" sei ein besonders weitreichender und intensiver Eingriff in das Persönlichkeitsrecht. Die beiden Gerichte maßen dem Persönlichkeitsrecht im Rahmen der Abwägung den Vorrang gegenüber dem Recht auf freie Meinungsäußerung zu. Letzteres sah die Beschwerdeführerin verletzt und legte Verfassungsbeschwerde ein.

BVerfG: Sinngehalt der Äußerung nicht mehrdeutig

Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg. Das BVerfG hat die Entscheidungen aufgehoben und die Sache zurückverwiesen. Es fehle bereits eine für die Klärung der Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts Naidoos entscheidende konkrete Sinndeutung der Äußerung der Beschwerdeführerin. Die Äußerung sei unzweideutig dahingehend zu verstehen, sie halte Naidoo für jemanden, der den sogenannten Reichsbürgern nahestehe, der als sogenannter Souveränist das Anliegen verfolge, die nach seiner Ansicht fehlende Souveränität Deutschlands (wieder)herzustellen, und der in diesem Kontext auch antisemitisches Gedankengut weitertrage. Es habe daher mangels Mehrdeutigkeit der Aussage vorliegend keiner Heranziehung der Grundsätze zur Auslegung mehrdeutiger Meinungsäußerungen bedurft. Die Äußerung der Beschwerdeführerin sei entgegen dem Berufungsgericht nicht dahingehend zu verstehen, der Sänger sei eine Person, die die personale Würde von Menschen jüdischer Abstammung durch nationalsozialistisch fundiertes Gedankengut grob verletze und möglicherweise in diesem Sinn sogar handlungsbereit sei. Diese Sinndeutung sei fernliegend.

Fehlende Beweisbarkeit strukturellen Nachweises irrelevant

Ferner seien die Fachgerichte bei ihrer Abwägung verfassungsrechtlich relevant fehlerhaft davon ausgegangen, es falle entscheidungserheblich der Beschwerdeführerin zur Last, dass der tatsächliche Gehalt ihrer Äußerung unrichtig sei und sie die Richtigkeit ihrer Äußerung nicht habe belegen können. Der in der Äußerung enthaltene Satz "Aber das ist strukturell nachweisbar" sei keine Tatsachenbehauptung, auf der die Bewertung des Klägers des Ausgangsverfahrens als Antisemit aufbaue. Auf eine fehlende Beweisbarkeit eines strukturellen Nachweises komme es damit nicht an.

Scharfe Kritik im öffentlichen Meinungskampf hinzunehmen

Verfassungsrechtlich relevant fehlerhaft sei weiter die Annahme des Berufungsgerichts, im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Rechtspositionen sei der Vorhalt des Antisemitismus bei einem Sänger, der von der Interaktion mit dem Publikum abhängig sei und im besonderen Maße im Licht der Öffentlichkeit stehe, besonders schwerwiegend. Das Berufungsgericht verkenne im Ergebnis die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit, da die Beschwerdeführerin mit ihrem Beitrag nicht lediglich eine private Auseinandersetzung zur Verfolgung von Eigeninteressen geführt habe. Vielmehr habe der Beitrag im Zusammenhang mit einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage gestanden. Zudem müsse, wer im öffentlichen Meinungskampf zu einem abwertenden Urteil Anlass gegeben habe, eine scharfe Reaktion auch dann hinnehmen, wenn sie das persönliche Ansehen mindert. Der Sänger habe sich mit seinen streitbaren politischen Ansichten freiwillig in den öffentlichen Raum begeben. Er beanspruche für sich entsprechend öffentliche Aufmerksamkeit. Schon deshalb liege die Annahme, die Aussage der Beschwerdeführerin habe eine Prangerwirkung, völlig fern. Ihm mit Hinweis auf sein Bestreben nach öffentlicher Aufmerksamkeit und eine Abhängigkeit von der Zustimmung eines Teils des Publikums den vom Berufungsgericht beschriebenen besonderen Schutz zuteilwerden zu lassen, hieße, Kritik an den durch ihn verbreiteten politischen Ansichten unmöglich zu machen. Zur öffentlichen Meinungsbildung müsse eine daran anknüpfende Diskussion möglich sein.

BVerfG, Beschluss vom 11.11.2021 - 1 BvR 11/20

Redaktion beck-aktuell, 22. Dezember 2021.