BVerfG: Überlastung eines Gerichts kein Grund für Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft

Die Überlastung eines Gerichts fällt in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Einem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine unangemessen lange Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur rechtzeitigen verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 11.06.2018 entschieden (Az.: 2 BvR 819/18).

Strafprozess verzögerte sich wegen Überlastung des Landgerichts

Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 03.11.2016 unter anderem wegen des Verdachts der schweren räuberischen Erpressung und der Bildung einer kriminellen Vereinigung ununterbrochen in Untersuchungshaft. Die unter dem 25.04.2017 verfasste Anklageschrift der Staatsanwaltschaft ging am 27.04.2017 beim Landgericht ein. Am selben Tag zeigte der Vorsitzende der zuständigen Staatsschutzkammer deren Überlastung an. Am 13.06.2017 erklärte der Präsident des Landgerichts, dass er von einer nunmehr dauerhaften Überlastung der betreffenden Kammer ausgehe, und errichtete eine weitere Staatsschutzkammer, die das Verfahren aufgrund Beschlusses des Präsidiums zum 01.07.2017 übernahm.

Angeklagter befand sich während der gesamten Zeit in Untersuchungshaft

Am 21.11.2017 ließ das Landgericht die Anklage zu und beschloss die Eröffnung des Hauptverfahrens. Die Hauptverhandlung begann am 06.12.2017. Bis zum 23.05.2018 hatte die Kammer 21 Termine anberaumt. Im Zeitraum Juni bis August 2018 hat die Kammer einen bis zwei Termine pro Monat anberaumt, in der Zeit bis zum 09.01.2019 drei bis vier Termine pro Monat. Einen Haftprüfungsantrag des Beschwerdeführers vom 07.02.2018 wies das Landgericht zurück. Die hiergegen gerichtete Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht Dresden mit Beschluss vom 27.03.2018 als unbegründet. Hiergegen richtet sich die Verfassungsbeschwerde des Angeklagten.

BVerfG: Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft war rechtswidrig

Das Bundesverfassungsgericht hat der Verfassungsbeschwerde stattgegeben. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden verletze den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft sei das Spannungsverhältnis zwischen dem Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Grundsätzlich dürfe nur einem rechtskräftig Verurteilten die Freiheit entzogen werden. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen sei wegen der Unschuldsvermutung nur ausnahmsweise zulässig.

Fortdauer der Untersuchungshaft regelmäßig nicht mit Verfahrensverzögerungen zu rechtfertigen

Die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte müssten daher alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. So sei im Fall der Entscheidungsreife über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung zu beschließen und anschließend im Regelfall innerhalb von weiteren drei Monaten mit der Hauptverhandlung zu beginnen. Die Untersuchungshaft könne dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch Verfahrensverzögerungen verursacht werde, die ihre Ursache nicht in dem konkreten Strafverfahren haben und daher von dem Beschuldigten nicht zu vertreten, sondern vermeidbar und sachlich nicht gerechtfertigt seien.

Überlastung des Gerichts im Verantwortungsbereich der staatlichen Gemeinschaft

Entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat könnten zwar kleinere Verfahrensverzögerungen die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung könnten aber bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft dienen. Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts dürfe niemals Grund für die Anordnung der Haftfortdauer sein. Die Überlastung eines Gerichts falle in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Dem Beschuldigten dürfe nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäume, seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte nachzukommen.

Fortgang des Verfahrens wurde vorliegend nicht ausreichend gefördert

Diesen Vorgaben genüge der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden nicht. Er enthalte keine verfassungsrechtlich tragfähige Begründung, die eine weitere Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen könnte. Das Verfahren sei nicht in der durch das Gewicht des Freiheitseingriffs gebotenen Zügigkeit gefördert worden. Der angegriffene Beschluss zeige keine besonderen Umstände auf, die die Fortdauer der Untersuchungshaft verfassungsrechtlich hinnehmbar erscheinen lassen könnten. Er werde damit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründung von Haftfortdauerentscheidungen nicht gerecht.

Justizverwaltung hätte Überlastungssituation rechtzeitig entgegentreten müssen

Das Oberlandesgericht habe bereits nicht schlüssig begründet, warum es sich um einen besonderen Ausnahmefall handeln soll, der es rechtfertige, dass das Landgericht erst ein Jahr und einen Monat nach Beginn der Untersuchungshaft und sieben Monate nach der Anklageerhebung mit der Hauptverhandlung begonnen hat. Insbesondere sei nicht nachvollziehbar, warum es nach Anklageerhebung zwei Monate dauerte, bis das Landgericht eine weitere Strafkammer errichtet hatte, die das Verfahren übernehmen konnte. Die Belastungssituation der ursprünglich zuständigen Strafkammer sei seit längerem bekannt gewesen. Diesen Zustand dauerhafter Überlastung habe nicht der Beschwerdeführer, sondern allein die Justizverwaltung zu vertreten, der es obliege, die Gerichte rechtzeitig in einer Weise mit Personal auszustatten, die eine den rechtsstaatlichen Anforderungen genügende Verfahrensgestaltung erlaube. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht sei sie nicht nachgekommen.

Angesetzte Verhandlungsdichte war nicht ausreichend für das Verfahren

Auch die Errichtung der zusätzlichen Kammer habe nicht dazu geführt, dass die vorliegende Haftsache innerhalb des durch das Beschleunigungsgebot gezogenen Rahmens bearbeitet und die bereits eingetretene Verfahrensverzögerung wirksam kompensiert worden wäre. Erst recht sei die bisherige Verhandlungsdichte nicht ausreichend, um den Anforderungen des Beschleunigungsgebots zu genügen. Seit Beginn der Hauptverhandlung am 06.12.2017 habe die Strafkammer in dem unter anderem gegen den Beschwerdeführer gerichteten Verfahren im Schnitt weit weniger als einmal pro Woche verhandelt.

Anhängigkeit mehrerer Verfahren kein Grund für verzögerte Durchführung

Zweifelhaft sei auch, ob der Umstand, dass das vorliegende Verfahren in einem sachlichen Zusammenhang mit weiteren, bei derselben Strafkammer anhängigen Strafverfahren stehe, die Verzögerungen bis zum Beginn der Hauptverhandlung und die seither ungenügende Verhandlungsdichte kompensieren könne. Wenn bei derselben Strafkammer mehrere sachlich zusammenhängende, aber nicht miteinander verbundene Verfahren gleichzeitig anhängig seien, könne dies nicht dazu führen, dass der Beschwerdeführer eine verzögerte Durchführung des gegen ihn gerichteten Verfahrens hinzunehmen habe. Überdies sei nicht erkennbar, inwiefern die getrennte Anklage und Verhandlung der im Zusammenhang stehenden Verfahren einer Verfahrensbeschleunigung dienen könnten oder bislang zu einer solchen Beschleunigung beigetragen hätten.

BVerfG, Beschluss vom 11.06.2018 - 2 BvR 819/18

Redaktion beck-aktuell, 26. Juni 2018.