BVerfG: Tariffähigkeit von Gewerkschaften darf gewisse Durchsetzungskraft voraussetzen

Die Neue Assekuranz Gewerkschaft (NAG) ist mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen die Feststellung, dass ihr die Tariffähigkeit fehle, gescheitert. Das Bundesverfassungsgericht nahm die Beschwerde nicht zur Entscheidung an. Die Anerkennung als tariffähige Gewerkschaft könne davon abhängig gemacht werden, ob eine gewisse Durchsetzungskraft gegenüber der Arbeitgeberseite gegeben sei. Dabei könne maßgeblich auf die Anzahl und Zusammensetzung ihrer Mitglieder abgestellt werden (Beschluss vom 13.09.2019, Az.: 1 BvR 1/16).

LAG Hessen verneinte Tariffähigkeit mangels Durchsetzungskraft 

Nach § 97 Arbeitsgerichtsgesetz entscheiden die Gerichte der Arbeitsgerichtsbarkeit darüber, ob Vereinigungen tariffähig sind und damit Partei eines Tarifvertrages sein können. Den Antrag, das festzustellen, können konkurrierende Vereinigungen treffen. Das Landesarbeitsgericht Hessen hatte festgestellt, dass die NAG keine tariffähige Gewerkschaft im Sinne des § 2 Abs. 1 Tarifvertragsgesetz (TVG) sei, da weder aus vergangener Teilnahme am Tarifgeschehen noch aus der Größe und Zusammensetzung ersichtlich sei, dass die Vereinigung über die erforderliche Durchsetzungskraft verfüge.

Beschwerdeführerin rügte Verstöße gegen Koalitionsfreiheit und rechtliches Gehör

Die Beschwerdeführerin rügte mit ihrer Verfassungsbeschwerde eine Verletzung von Art. 9 Abs. 3 GG sowie von Art. 103 Abs. 1 GG. Sie rügte das Erfordernis der "sozialen Mächtigkeit". Zudem rügte sie, dass das Verfahren nach § 97 Abs. 2 ArbGG zur Feststellung der Tariffähigkeit auf eine Tatsacheninstanz beschränkt sei.

BVerfG: Instanzenzug nicht garantiert

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde mangels einer den gesetzlichen Anforderungen genügenden Begründung für unzulässig erachtet, soweit die Beschwerdeführerin einen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit Art. 103 Abs. 1 GG rügte. Die Verfassung garantiere keinen Instanzenzug. Es sei vielmehr Aufgabe des Gesetzgebers, unter Abwägung und Ausgleich der betroffenen Interessen zu entscheiden, ob eine Instanz entscheiden solle oder ob mehrere Instanzen bereitgestellt werden und unter welchen Voraussetzungen sie angerufen werden können. Davon ausgehend sei hier kein Verstoß gegen das Grundgesetz erkennbar.

Hoffnung Beteiligter auf Veränderung der Tatsachenlage nicht geschützt

Soweit die Beschwerdeführerin rüge, dass die Beschränkung auf eine Tatsacheninstanz die Entwicklungsmöglichkeiten einer Koalition noch während des laufenden Verfahrens verkürze, greife das nicht durch. Allein die Hoffnung Beteiligter auf eine Veränderung der Tatsachenlage zu eigenen Gunsten während eines Statusfeststellungsverfahrens werde durch Art. 103 Abs. 1 GG nicht geschützt. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass über die Tariffähigkeit einer Vereinigung auch nach einer rechtskräftigen Entscheidung bei einer wesentlichen Veränderung der relevanten Tatsachen erneut entschieden werden könne.

Erfordernis gewisser Durchsetzungskraft mit Koalitionsfreiheit vereinbar

Auch die Rechte der Beschwerdeführerin aus Art. 9 Abs. 3 GG seien weder durch die angegriffene Entscheidung noch durch das angegriffene Gesetz verletzt, so das BVerfG weiter. Weder das Grundgesetz noch das Tarifvertragsgesetz regelten ausdrücklich, wann eine Arbeitnehmerkoalition als Gewerkschaft anzusehen sei. Die Gerichte der Arbeitsgerichtsbarkeit hätten daher die Voraussetzungen für die Tariffähigkeit näher zu umschreiben. Laut BVerfG ist es mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit vereinbar, nur solche Koalitionen an der Tarifautonomie teilnehmen zu lassen, die in der Lage seien, den von der staatlichen Rechtsordnung freigelassenen Raum des Arbeitslebens durch Tarifverträge sinnvoll zu gestalten, um so die Gemeinschaft sozial zu befrieden. So könne nicht jede Splittervereinigung Tarifverträge erkämpfen und abschließen, da nur Vereinigungen als tariffähig anzusehen seien, die eine gewisse Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler haben. Allerdings dürften dabei keine Anforderungen an die Tariffähigkeit gestellt werden, die erheblich auf die Bildung und Betätigung einer Koalition zurückwirkten, diese unverhältnismäßig einschränkten und so zur Aushöhlung der freien Koalitionsbildung und -betätigung führten.  

Durchsetzungskraft darf maßgeblich anhand der Anzahl und Zusammensetzung der Mitglieder beurteilt werden

Davon ausgehend sei die Entscheidung des LAG mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen vereinbar. Es habe davon ausgehen dürfen, dass die Beschwerdeführerin keine tariffähige Gewerkschaft im Sinne des § 2 Abs. 1 TVG ist, und dabei maßgeblich auf die Größe und Zusammensetzung der Mitgliederschaft der Vereinigung abstellen dürfen. Ohne eine gewisse Geschlossenheit der Organisation und Durchsetzungskraft wäre eine Arbeitnehmervereinigung vom guten Willen der Arbeitgeberseite und anderer Arbeitnehmerkoalitionen abhängig und könnte den Aufgaben der Tarifautonomie nicht gerecht werden. Die Zahl der organisierten Arbeitnehmer bestimme die Verhandlungsfähigkeit einer Koalition, deren finanzielle Ausstattung und organisatorische Leistungsfähigkeit. Vor allem aber gebe die Mitgliederzahl Aufschluss darüber, ob eine Vereinigung hinreichenden Druck aufbauen könne, um Verhandlungen über den Abschluss eines Tarifvertrags zu erzwingen. Die Folge, dass Koalitionen im gerichtlichen Verfahren prozessuale Nachteile entstehen könnten, wenn sie ihre Mitgliederstärke nicht offenlegen, begegne vor diesem Hintergrund keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken.

Keine unangemessenen Anforderungen gestellt

Das LAG habe bei der ihm obliegenden Beurteilung des Einzelfalls auch keine Anforderungen an die Durchsetzungsfähigkeit gestellt, die unter Berücksichtigung der grundrechtlich gewährleisteten Koalitionsfreiheit unangemessen auf die Bildung und Betätigung einer Koalition zurückwirkten. Die Annahme, dass sich aus einem Organisationsgrad von nicht mehr als 0,05% unter Berücksichtigung der konkreten Zusammensetzung der Vereinigung keine hinreichende Durchsetzungsfähigkeit gegenüber dem sozialen Gegenspieler ergebe, sei nachvollziehbar.

BVerfG, Beschluss vom 13.09.2019 - 1 BvR 1/16

Redaktion beck-aktuell, 22. November 2019.

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