Tarifkollisionen werden durch Mehrheitsprinzip aufgelöst
Das Tarifeinheitsgesetz regelt die Auflösung von Tarifkollisionen in einem Betrieb durch Anwendung des Mehrheitsprinzips. Überschneiden sich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften, ist nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG im Betrieb nur der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft anwendbar, die in diesem Betrieb die meisten Mitglieder hat. Eine Gewerkschaft, deren Tarifvertrag verdrängt wird, hat einen Anspruch auf Nachzeichnung des Tarifvertrags der Mehrheitsgewerkschaft. Zur Feststellung der Mehrheit ist ein arbeitsgerichtliches Beschlussverfahren vorgesehen (§§ 2a Abs. 1 Nr. 6, 99 ArbGG).
Gewerkschaften rügten Verletzung der Koalitionsfreiheit
Mehrere Berufsgruppengewerkschaften, Branchengewerkschaften, ein Spitzenverband sowie ein Gewerkschaftsmitglied erhoben gegen das Tarifeinheitsgesetz Verfassungsbeschwerde und rügten vor allem eine Verletzung der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG). Sie beanstandeten, dass insbesondere das Recht beeinträchtigt werde, effektiv wirkende Tarifverträge abzuschließen.
BVerfG: Tarifeinheitsgesetz trotz Eingriffs in Koalitionsfreiheit weitgehend verfassungskonform
Das BVerfG hat demgegenüber entschieden, dass das Tarifeinheitsgesetz weitgehend verfassungskonform ist. Die Regelung zur Verdrängung eines Tarifvertrags im Kollisionsfall greife zwar in die Koalitionsfreiheit ein. Außerdem könne sie grundrechtsbeeinträchtigende Vorwirkungen entfalten, da die drohende Verdrängung des eigenen Tarifvertrags das Verhalten der Gewerkschaften vor Eintritt einer Tarifkollision, etwa die tarifpolitische Ausrichtung und Strategie sowie die Profilgestaltung, beeinflussen kann.
Streikrecht erforderlichenfalls durch verfassungskonforme Auslegung sicherstellen
Das BVerfG unterstreicht in diesem Zusammenhang, dass das in Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Recht, mit den Mitteln des Arbeitskampfes auf den jeweiligen Gegenspieler Druck und Gegendruck ausüben zu können, um zu einem Tarifabschluss zu gelangen, durch das Tarifeinheitsgesetz nicht angetastet werde. Die Unsicherheit im Vorfeld eines Tarifabschlusses über das Risiko, dass ein Tarifvertrag verdrängt werden könne, begründe weder bei klaren noch bei unsicheren Mehrheitsverhältnissen ein Haftungsrisiko einer Gewerkschaft bei Arbeitskampfmaßnahmen. Dies müssten die Arbeitsgerichte gegebenenfalls in verfassungskonformer Anwendung der Haftungsregeln sicherstellen.
Tarifeinheitsgesetz soll strukturelle Voraussetzungen von Tarifverhandlungen sichern
Soweit das BVerfG die Koalitionsfreiheit durch das Tarifeinheitsgesetz beeinträchtigt sieht, hält es dies aber bei der verfassungsrechtlich gebotenen Auslegung und Handhabung der angegriffenen Regelungen für weitgehend mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar. Zweck des Tarifeinheitsgesetzes sei es, Anreize für ein kooperatives Vorgehen der Arbeitnehmerseite in Tarifverhandlungen zu setzen und so Tarifkollisionen zu vermeiden. Damit verfolge der Gesetzgeber das legitime Ziel, das Verhältnis der Tarifvertragsparteien untereinander zu regeln, um strukturelle Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Tarifverhandlungen einen fairen Ausgleich ermöglichen. Die Koalitionsfreiheit vermittle Gewerkschaften kein Recht auf absolute tarifpolitische Verwertbarkeit von Schlüsselpositionen und Blockademacht zum eigenen Nutzen.
Regelungen bei verfassungskonformer Auslegung weitgehend zumutbar
Laut BVerfG sind die angegriffenen Regelungen geeignet, dieses Ziel zu erreichen, auch wenn nicht gewiss sei, dass der gewollte Effekt tatsächlich eintritt. Es bestünden auch keine verfassungsrechtlich durchgreifenden Bedenken gegen ihre Erforderlichkeit. Der Gesetzgeber habe den ihm hier zustehenden Beurteilungs- und Prognosespielraum nicht verletzt. Die mit dem Tarifeinheitsgesetz verbundenen Belastungen seien in einer Gesamtabwägung auch überwiegend zumutbar, wenn ihnen durch eine restriktive Auslegung der Verdrängungsregelung (§ 4a Abs. 2 TVG), ihrer verfahrensrechtlichen Einbindung sowie durch eine weite Interpretation des Nachzeichnungsanspruchs Schärfen genommen werden.
Belastungsmildernde Faktoren: Verdrängungsregelung ist tarifdispositiv
Dabei berücksichtigt das BVerfG, dass das Gewicht der Beeinträchtigung durch die Regelungen dadurch relativiert ist, dass es die Betroffenen in gewissem Maße selbst in der Hand haben, ob es zur Verdrängungswirkung kommt oder nicht. Die Verdrängungsregelung sei tarifdispositiv. Allerdings müssten dazu alle betroffenen Tarifvertragsparteien vereinbaren, dass die Kollisionsnorm nicht zur Anwendung kommt.
Verdrängungswirkung im Fall der Tarifkollision beschränkt
Zudem sei die Verdrängungswirkung im Fall der Tarifkollision im Betrieb schon nach der gesetzlichen Regelung mehrfach beschränkt. Darüber hinaus seien die Arbeitsgerichte gehalten, Tarifverträge im Kollisionsfall so auszulegen, dass die durch eine Verdrängung beeinträchtigten Grundrechtspositionen möglichst weitgehend geschont werden, so das BVerfG weiter. Wenn und soweit es objektiv dem Willen der Tarifvertragsparteien des Mehrheitstarifvertrags entspreche, eine Ergänzung ihrer Regelungen durch Tarifverträge konkurrierender Gewerkschaften zuzulassen, würden diese nicht verdrängt. Bestehe Grund zu der Annahme, dass Regelungen kollidierender Tarifverträge nebeneinander bestehen sollen, finde die Verdrängung dort nicht statt.
Längerfristig bedeutsame Leistungen dürfen nicht verdrängt werden
Um unzumutbare Härten zu vermeiden, dürfen laut BVerfG bestimmte tarifvertraglich garantierte Leistungen nicht verdrängt werden. Das betreffe längerfristig bedeutsame Leistungen, auf die sich Beschäftigte in ihrer Lebensplanung typischerweise einstellen und auf deren Bestand sie berechtigterweise vertrauen, wie beispielsweise Leistungen zur Alterssicherung, zur Arbeitsplatzgarantie oder zur Lebensarbeitszeit. Der Gesetzgeber habe dafür keine Schutzvorkehrungen getroffen. Hier seien die Gerichte verfassungsrechtlich verpflichtet sicherzustellen, dass die Verdrängung eines Tarifvertrags zumutbar bleibt. Ließen sich die Härten nicht in der Anwendung des für die weitere Gewährung solcher Leistungen maßgeblichen Rechts vermeiden, müsse der Gesetzgeber dies regeln.
Verdrängter Tarifvertrag kann wiederaufleben
Die beeinträchtigende Wirkung werde auch durch die Auslegung der Kollisionsregelung gemildert, wonach die Verdrängung eines Tarifvertrags nur solange andauere, wie der verdrängende Tarifvertrag laufe und kein weiterer Tarifvertrag eine Verdrängung bewirke. Der verdrängte Tarifvertrag lebe danach für die Zukunft wieder auf. Ob dies anders zu beurteilen sei, um ein kurzfristiges Springen zwischen verschiedenen Tarifwerken zu vermeiden, müssten die Fachgerichte entscheiden.
Nachzeichnungsanspruch muss gesamten verdrängenden Tarifvertrag erfassen
Die Belastungswirkungen der Verdrängung seien auch durch den Anspruch auf Nachzeichnung eines anderen Tarifvertrags gemildert (§ 4a Abs. 4 TVG). Dieser sei verfassungskonform so auszulegen, dass er sich auf den gesamten verdrängenden Tarifvertrag bezieht. Der Nachzeichnungsanspruch korrespondiere so zumindest mit der Reichweite der Verdrängung, könne aber auch weiter reichen.
Verfahrens- und Beteiligungsrechte der betroffenen Gewerkschaften
Dem BVerfG zufolge wird die Beeinträchtigung der Rechte aus Art. 9 Abs. 3 GG auch durch Verfahrens- und Beteiligungsrechte der von der Verdrängung betroffenen Gewerkschaft gemindert. Der Arbeitgeber sei verpflichtet, die Aufnahme von Tarifverhandlungen rechtzeitig im Betrieb bekannt zu geben. Die nicht selbst verhandelnde, aber tarifzuständige Gewerkschaft habe einen Anspruch darauf, dem Arbeitgeber ihre Vorstellungen vorzutragen. Diese Verfahrenspositionen seien als echte Rechtspflichten zu verstehen. Würden sie verletzt, lägen die Voraussetzungen für eine Verdrängung nicht vor.
Risiko einer Offenlegung der Mitgliederstärke von Gewerkschaften möglichst zu vermeiden
Schließlich erachtet das BVerfG auch die Belastungen, die mit dem Beschlussverfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 6, § 99 ArbGG durch das Risiko einer Offenlegung der Mitgliederstärke für die Gewerkschaften verbunden sein können, im Ergebnis für zumutbar. Die Ungewissheit des Arbeitgebers über die tatsächliche Durchsetzungskraft einer Gewerkschaft aufgrund deren Mitgliederstärke sei für die von Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Parität zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberseite von besonderer Bedeutung. Die Fachgerichte müssten die prozessrechtlichen Möglichkeiten nutzen, um eine Offenlegung der Mitgliederstärke möglichst zu vermeiden. Wenn dies nicht in allen Fällen gelinge, sei das mit Blick auf das gesetzgeberische Ziel jedoch insgesamt zumutbar.
Gesetzgeber muss bei Berücksichtigung der Interessen kleinerer Berufsgruppen nachbessern
Für unverhältnismäßig hält das BVerfG die mit der Verdrängung eines Tarifvertrags verbundenen Beeinträchtigungen aber insoweit, als Schutzvorkehrungen gegen eine einseitige Vernachlässigung der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen durch die jeweilige Mehrheitsgewerkschaft fehlten. Der Gesetzgeber habe keine Vorkehrungen getroffen, die sicherten, dass in einem Betrieb die Interessen von Angehörigen kleinerer Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt werde, hinreichend berücksichtigt werden. So sei nicht auszuschließen, dass auch im Fall der Nachzeichnung deren Arbeitsbedingungen und Interessen mangels wirksamer Vertretung in der Mehrheitsgewerkschaft unzumutbar übergangen werden. Der Gesetzgeber müsse hier Abhilfe schaffen. Dabei habe er einen weiten Gestaltungsspielraum.
Maßgaben für Anwendung des § 4a TVG in Übergangszeit
Das BVerfG hat bestimmt, dass § 4a TVG bis zu einer Neuregelung nur mit der Maßgabe angewendet werden darf, dass eine Verdrängungswirkung erst in Betracht kommt, wenn plausibel dargelegt werden kann, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat.
Sondervotum
Ein Sondervotum haben Richter Paulus und Richterin Baer abgegeben. Sie sind der Auffassung, das Ziel der Sicherung der Tarifautonomie sei zwar legitim, aber das Mittel der Verdrängung eines abgeschlossenen Tarifvertrags zu scharf. Komplexe Fragen müsse der Gesetzgeber entscheiden und nicht der Senat. Außerdem seien die weiteren im Urteil identifizierten verfassungsrechtlichen Defizite des Tarifeinheitsgesetzes entweder durch eine zwingende verfassungskonforme Auslegung oder durch eine Neuregelung und damit vom Gesetzgeber zu lösen. Sie monieren auch die Entscheidung, das Gesetz fortgelten zu lassen. Nach ihrer Ansicht hätte § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG für nichtig erklärt werden müssen.