Strafklageverbrauch für Einstellungsverfügungen der Staatsanwaltschaft?
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Eine Frau, deren Strafverfolgung wegen Taten, die die Staatsanwaltschaft umfassend ermittelt und dann nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellt hat, darf zur strafrechtlichen Ahndung derselben Taten nicht nach Tschechien ausgeliefert werden. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass diese Einstellung zwar keinen Strafklageverbrauch im eigentlichen Sinne begründet, aber ein Vertrauen in den Verfahrensabschluss schafft, das nicht willkürlich enttäuscht werden darf.

Strafverfolgung in Deutschland wegen mehrfachen Drogenhandels

Nach Angaben tschechischer Behörden sollte sich eine Frau aus Sachsen mit tschechischer Staatsangehörigkeit an Drogeneinfuhren aus Tschechien beteiligt haben. Daraufhin leitete die Staatsanwaltschaft Chemnitz umfangreiche Ermittlungen gegen die Frau ein: Sie überwachte ihre Telekommunikation, vernahm sie als Beschuldigte und durchsuchte ihre Wohnung, wo sie auch rund 1 kg Marihuana fand. Da die übrigen Beteiligten alle in Tschechien strafrechtlich verfolgt wurden, fragte die Chemnitzer Ermittlungsbehörde bei ihren Kollegen im Nachbarland an, ob sie nicht auch das Verfahren gegen die Sächsin führen wollten. Die lehnten ab, sie würden gegen ebenjene keine Strafverfolgung planen. Daraufhin wurde die Frau wegen Drogenbesitz und einigen Fällen von Beihilfe zum Betäubungsmittelhandel zwischen Ende 2013 bis August 2014 in Chemnitz angeklagt, das Verfahren wegen weiterer Fälle aus diesem Zeitraum wurde nach § 154 Abs. 1 Nr. 1 StPO eingestellt. Nach der Verurteilung 2015 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren, die das Gericht zur Bewährung aussetzte, wurde das Verfahren wegen der eingestellten Fälle auch nicht wieder aufgenommen.

Strafverfolgung in Tschechien wegen Drogenausfuhr

Einige Monate nach ihrer Verurteilung überlegte es sich die tschechische Staatsanwaltschaft anders und leitete ein Ermittlungsverfahren wegen Taten aus demselben Zeitraum, der bereits in Chemnitz abgehandelt worden war, ein. Die Frau wurde bei einer Zeugeneinvernahme in Tschechien verhaftet und saß für sechs Monate in Untersuchungshaft. Danach kam sie wieder nach Deutschland. 2018 wurde sie in Tschechien wegen Betäubungsmittelausfuhr - diesmal als Mitglied einer Bande - angeklagt. Aufgenommen waren auch Taten, die im deutschen Verfahren nicht ausdrücklich inbegriffen waren, sich aber während des "angeklagten" Zeitraums ereignet haben sollten. Nach einer Strafanzeige gegenüber der Chemnitzer Staatsanwaltschaft stellte die Behörde diese "neuen" Verfahren nach § 170 Abs. 2 StPO ein, weil diese bereits Gegenstand der damaligen Einstellungsverfügung gewesen seien, was ein faktisches Strafverfolgungshindernis darstelle. Nachdem die Frau der Hauptverhandlung in Tschechien fernblieb, erließ das dortige Gericht einen europäischen Haftbefehl. Das Oberlandesgericht Dresden erklärte 2021 die Überstellung für zulässig. Die Frau wandte sich daraufhin hilfesuchend an das Bundesverfassungsgericht - mit Erfolg.

Art. 50 GRCh (Verbot der Doppelbestrafung) verletzt

Die Verfassungsbeschwerde sei zulässig und offensichtlich begründet, so das Gericht: Die Auslieferung sei nach § 83 Abs. 1 Nr. 1 IRG unzulässig, wenn die Verfolgte wegen derselben Tat, die der Auslieferung zugrunde liegt, bereits rechtskräftig in einem anderen Mitgliedstaat abgeurteilt wurde. Das Verbot der Doppelbestrafung gelte nicht nur für Strafaussprüche oder Freisprüche, sondern könne sich nach § 83b Abs. 1 Nr. 2 IRG auch auf Einstellungsbescheide der Staatsanwaltschaft erstrecken. Zwar begründe die Einstellung nach § 154 Abs. 1 StPO noch keinen Strafklageverbrauch, sie schaffe aber eine Vertrauensgrundlage dafür, dass das Verfahren abgeschlossen ist und nicht ohne sachlichen Grund wiederaufgenommen werde. Voraussetzung dafür, so das BVerfG, sei nur, dass dieser Verfügung eine umfassende Prüfung des Sachverhalts vorangegangen sei. Da die Einstellungen nach umfangreichen Ermittlungen der Behörde ergangen waren und das Verfahren nach dem Strafurteil auch nicht wiederaufgenommen worden ist, sei die Betroffene in ihrem Vertrauen auf den Abschluss der Angelegenheit zu schützen. Dies betreffe einen erheblichen Teil der Taten, aufgrund derer die tschechischen Behörden die Überstellung beantragt hätten. 

BVerfG, Beschluss vom 19.05.2022 - 2 BvR 1110/21

Redaktion beck-aktuell, 26. Juli 2022.