Mehrere Richtervorlagen zu steuerrechtlichen Änderungen
Den Verfahren lagen Klagen von Steuerpflichtigen zugrunde, die durch das Haushaltsbegleitgesetz 2004 und durch das Steuerbereinigungsgesetz 1999 belastet wurden. Zwei Vorlagen des Bundesfinanzhofs (2 BvL 4/11 und 2 BvL 5/11) betrafen die Erhöhung der ermäßigten Biersteuersätze für kleinere Brauereien. Eine Vorlage des Finanzgerichts Baden-Württemberg (2 BvL 4/13) betraf die weitere Begrenzung des Betriebskostenabzugs von Bewirtungsaufwendungen. In einer weiteren Vorlage des Bundesfinanzhofs (2 BvL 1/09) ging es um eine Änderung des Körperschaftsteuergesetzes in Bezug auf umwandlungssteuerrechtliche Übernahmegewinne.
Koch/Steinbrück-Papier
Das Haushaltsbegleitgesetz 2004 beruhte auf einem Gesetzentwurf der Bundesregierung, der unter anderem den Abbau von Subventionen umsetzen sollte. Der Entwurf wurde im ersten Durchgang vom Bundesrat abgelehnt. Zeitgleich erarbeitete eine Arbeitsgruppe unter Leitung der Ministerpräsidenten der Länder Hessen und Nordrhein-Westfalen, Roland Koch (CDU) und Peer Steinbrück (SPD), das sogenannte Koch/Steinbrück-Papier. Das 61 Seiten sowie einen Anhang von weiteren 52 Seiten umfassende Papier enthielt im Wesentlichen Listen von - im Einzelnen nach den gesetzlichen Vorschriften benannten - Steuervergünstigungen und von Finanzhilfen, die grundsätzlich pauschal um jeweils 12% gekürzt werden sollten. Zu den Vorschlägen zählte die Erhöhung der ermäßigten Biersteuersätze für kleinere Brauereien in § 2 Abs. 2 Sätze 1 und 4 BierStG a. F. sowie die (weitere) Begrenzung des Betriebskostenabzugs von Bewirtungsaufwendungen durch Herabsenkung der in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG a. F. geregelten Quote von 80% der angemessenen und nachgewiesenen Aufwendungen auf 70%.
Vorschlag des Vermittlungsausschusses Koch/Steinbrück-Papier entnommen
Die Gesetzesvorlage wurde federführend dem Haushaltsausschuss und mitberatend dem Finanzausschuss des Deutschen Bundestages zugewiesen. Beide Ausschüsse sprachen sich dafür aus, den Gesetzentwurf in zum Teil geänderter Fassung, jedoch ohne Berücksichtigung des Koch/Steinbrück-Papiers anzunehmen. Der Gesetzentwurf wurde daraufhin in zweiter Beratung sowie in der Schlussabstimmung in der Ausschussfassung angenommen. Der Bundesrat verlangte im zweiten Durchgang die Einberufung des Vermittlungsausschusses mit dem Ziel, das Gesetz grundlegend zu überarbeiten und die Vorschläge der Ministerpräsidenten Koch und Steinbrück in den Gesetzentwurf einzubeziehen. Der Vermittlungsausschuss einigte sich am 16.12.2003 unter anderem auf einen dem Koch/Steinbrück-Papier entsprechenden Vorschlag zu Änderungen der Biersteuersätze sowie der Abzugsfähigkeit von Bewirtungsaufwendungen; die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses wurde in der Sitzung des Deutschen Bundestages am 19.12.2003 angenommen. Der Bundesrat stimmte dem Gesetz am 29.12.2003 zu. Das Gesetz wurde am 31.12.2003 im Bundesgesetzblatt verkündet und trat am 01.01.2004 in Kraft.
Änderung bei der Körperschaftsteuer erst vom Vermittlungsausschuss vorgeschlagen
Das Steuerbereinigungsgesetz 1999 (StBereinG 1999) ging auf inhaltsgleiche Gesetzentwürfe der Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung zurück, die in insgesamt 25 Artikeln Änderungen diverser steuerlicher Vorschriften enthielten. Der federführende Finanzausschuss des Bundestages empfahl, eine Regelung in Bezug auf umwandlungssteuerrechtliche Übernahmegewinne einzufügen, machte aber keine Empfehlung zum zeitlichen Anwendungsbereich, so dass eine zeitliche Lücke verblieb. Der Bundestag verabschiedete es in der vom Finanzausschuss empfohlenen Fassung. Der Bundesrat verlangte die Einberufung des Vermittlungsausschusses mit dem Ziel, bestimmte Änderungen des Einkommensteuergesetzes betreffend die Besteuerung der Erträge von Kapitallebensversicherungen zu streichen. Die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses sah zum einen die Streichung der Vorschriften vor, wegen derer der Vermittlungsausschuss einberufen worden war. Zum anderen fanden sich darin zahlreiche weitere Änderungen und Ergänzungen des Steuerbereinigungsgesetzes 1999, die unterschiedliche Regelungsbereiche betrafen und keinen sachlichen Bezug zur Besteuerung von Kapitallebensversicherungen aufwiesen. In den Erörterungen des Vermittlungsausschusses waren sie als "technische Änderungen" bezeichnet worden, auf die man sich in nicht protokollierten Gesprächen geeinigt habe. Hierzu zählte die Einfügung einer Vorschrift im KStG 1999, damit die Regelung in Bezug auf umwandlungssteuerrechtliche Übernahmegewinne bereits für den Veranlagungszeitraum 1999 anzuwenden war. Der Bundestag nahm die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses am 16.12.1999 an. Der Bundesrat stimmte dem Gesetz in der geänderten Fassung zu.
BVerfG: Koch/Steinbrück-Papier ungenügend in parlamentarisches Verfahren eingeführt
Das BVerfG hat entschieden, dass die durch das Haushaltsbegleitgesetz 2004 vorgenommenen Änderungen von § 2 Abs. 2 Sätze 1 und 4 BierStG a. F. sowie § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG a. F. formell verfassungswidrig waren. Der Vermittlungsausschuss habe mit seinen Vorschlägen seine Kompetenzen überschritten. Das Koch/Steinbrück-Papier konnte laut BVerfG aufgrund der Art seiner Einführung und seiner Behandlung im parlamentarischen Verfahrensgang keine Grundlage für die vom Vermittlungsausschuss vorgeschlagenen Änderungen des Biersteuergesetzes und des Einkommensteuergesetzes sein. Der Vorschlag des Vermittlungsausschusses, die Ermäßigung der Biersteuer für kleinere Brauereien zu kürzen und die Quote der steuerlichen Abziehbarkeit von Bewirtungsaufwendungen zu reduzieren, könne dem Bundestag nicht aufgrund einer dort geführten Debatte zugerechnet werden. Die Änderung der Biersteuersätze und die Absenkung der Abzugsfähigkeit von Bewirtungsaufwendungen seien im Gesetzgebungsverfahren vor dem Gesetzesbeschluss des Bundestages nicht in einer Weise bekannt gegeben worden, die den Abgeordneten in Wahrnehmung ihrer ihnen aufgrund ihres freien Mandats obliegenden Verantwortung die Möglichkeit gegeben hätte, diese zu erörtern, Meinungen zu vertreten, Regelungsalternativen vorzustellen und hierfür in dem öffentlichen parlamentarischen Verfahren eine Mehrheit zu suchen.
Papier zielte auf Vermeidung einer öffentlichen parlamentarischen Debatte
Das Koch/Steinbrück-Papier sei nach der Art seiner Einbringung und Behandlung im Bundestag nicht auf parlamentarische Beratung angelegt gewesen, sondern habe das Ziel gehabt, ohne die Öffentlichkeit einer parlamentarischen Debatte und eine hinreichende Information der Mitglieder des Deutschen Bundestages den als notwendig erkannten politischen Kompromiss erst im Vermittlungsausschuss herbeizuführen, so das BVerfG weiter. Ein für die einzelnen Abgeordneten und für die Öffentlichkeit erkennbarer, hinreichend konkreter Hinweis darauf, dass unmittelbar durch das Haushaltsbegleitgesetz 2004 der vorgeschlagene Abbau von Steuervergünstigungen vorgenommen, also auch die Ermäßigung der Biersteuer für kleinere Brauereien gekürzt und die Quote der steuerlichen Absetzbarkeit von Bewirtungsaufwendungen reduziert werden sollte, habe sich weder aus dem Gesetzentwurf der Bundesregierung ergeben noch aus der Behandlung des Koch/Steinbrück-Papiers in den Ausschüssen oder im Plenum des Bundestages. Die gleichzeitige Presseberichterstattung über das Koch/Steinbrück-Papier sowie dessen Verfügbarkeit im Internet seien dafür ohne Belang.
Rollenverhältnis von Bundestag und Bundesrat zu beachten
Dem BVerfG zufolge lässt sich die Einbeziehung des Inhalts des Koch/Steinbrück-Papiers in den Beschlussvorschlag des Vermittlungsausschusses nicht allein damit rechtfertigen, dass der Bundesrat in seinem Anrufungsbegehren verlangt habe, das Gesetz grundlegend zu überarbeiten und die Vorschläge der Ministerpräsidenten Koch und Steinbrück zum Abbau von Steuervergünstigungen und Finanzhilfen einzubeziehen. Hielte man den Vermittlungsausschuss allein aufgrund des weit gefassten Anrufungsbegehrens für berechtigt, die im Koch/Steinbrück-Papier vorgeschlagenen Kürzungen von Steuervergünstigungen in seinen Beschlussvorschlag einzubeziehen, so würde das vom Grundgesetz vorgegebene Rollenverhältnis des Bundestages und des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren in sein Gegenteil verkehrt: Die Anrufung käme dann einer Gesetzesinitiative des Bundesrates gleich, die nur auf dem verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Weg zulässig sei. Dem Bundestag würde auf diese Weise eine Veto-Position zugeordnet, die gerade ein kennzeichnendes Merkmal der Stellung des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren sei.
Lediglich Unvereinbarkeit mit Grundgesetz festgestellt
Unter dem Gesichtspunkt der Verlässlichkeit der Finanz- und Haushaltsplanung für weitgehend schon abgeschlossene Zeiträume hat das BVerfG lediglich die Unvereinbarkeit der angegriffenen Normen mit dem Grundgesetz festgestellt. Sie blieben für den Zeitraum bis zu ihrer - bereits erfolgten - Bestätigung oder Neuregelung anwendbar. Materiell seien die zur Prüfung vorgelegten Vorschriften mit der Verfassung vereinbar.
Vorschlag zur Körperschaftssteuer überschritt Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens
Laut BVerfG war auch die Änderung des Körperschaftsteuergesetzes in Bezug umwandlungssteuerrechtliche Übernahmegewinne formell verfassungswidrig. Der Vermittlungsausschuss dürfe eine Änderung, Ergänzung oder Streichung der vom Bundestag beschlossenen Vorschriften nur vorschlagen, wenn und soweit dieser Einigungsvorschlag im Rahmen des ihnen zugrundeliegenden Gesetzgebungsverfahrens verbleibt. Der Vermittlungsausschuss habe hier eine Bestimmung in seinen Einigungsvorschlag aufgenommen, die den Rahmen des bisherigen Gesetzgebungsverfahrens überschreite. Die zeitliche Anwendungsregel sei bis zu dem Gesetzesbeschluss des Bundestags nicht Gegenstand des Gesetzgebungsverfahrens gewesen. Ihr Normgehalt sei dem Bundestag nicht aufgrund der dort geführten Debatte zurechenbar. Der Vorschlag des Finanzausschusses habe eine Schließung der zeitlichen Lücke erst ab dem Veranlagungsjahr 2000 vorgesehen, weil die Änderungen des Körperschaftsteuergesetzes nach der in dem Gesetzentwurf des Steuerbereinigungsgesetzes 1999 vorgesehenen Fassung der betreffenden Vorschrift erstmals für den Veranlagungszeitraum 2000 gelten sollten. Das Vorziehen der Anwendung auf den 01.01.1999 sei erst vom Vermittlungsausschuss empfohlen worden. Die erstmalige Anwendung der Vorschrift bereits ab dem Veranlagungszeitraum 1999 sei dem Vorschlag des Finanzausschusses auch nicht inhärent gewesen. Die gesetzgeberischen Erwägungen dazu, dass überhaupt eine Lückenschließung erfolgen solle, trügen nicht ohne weiteres auch eine rückwirkende Schließung.
Grenzen des Anrufungsbegehrens überschritten
Zudem habe der Vermittlungsausschuss auch den ihm durch das Anrufungsbegehren eingeräumten Spielraum überschritten, moniert das BVerfG. Werde der Anrufungsauftrag auf einzelne Vorschriften begrenzt, müsse der Vermittlungsausschuss die übrigen Regelungen des vom Bundestag beschlossenen Gesetzes als endgültig hinnehmen. Das Anrufungsbegehren habe hier nur die Besteuerung der Erträge aus Kapitallebensversicherungen betroffen. Durch das auf einzelne Bestimmungen beschränkte und auf eine konkrete Fragestellung gerichtete Anrufungsbegehren sei der Vermittlungsausschuss beauftragt gewesen, in der Frage der Einführung einer Besteuerung von Erträgen aus Kapitallebensversicherungen zwischen dem Bundestag und dem Bundesrat zu vermitteln. Für die Regelung des zeitlichen Anwendungsbereichs der Besteuerung bestimmter Übernahmegewinne im Körperschaftsteuergesetz habe ihm dagegen die Kompetenz gefehlt. Diese habe außerhalb der bestehenden Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Bundestag und dem Bundesrat gelegen, zu deren Ausgleich der Vermittlungsausschuss berufen sei.
Regelung ist nichtig
Der Verstoß gegen Art. 20 Abs. 2 GG, Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, Art. 42 Abs. 1 Satz 1 und Art. 76 Abs. 1 GG führe zur Nichtigkeit der betreffenden Regelung. Es bestünden keine zwingenden oder auch nur überwiegenden Gründe dafür, vom gesetzlichen Regelfall des § 78 Satz 1 BVerfGG abzuweichen und von einer Nichtigerklärung abzusehen. Dass im Interesse verlässlicher Finanz- und Haushaltsplanung oder eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs für Zeiträume einer weitgehend abgeschlossenen Veranlagung von einer Nichtigerklärung abgesehen werden müsste, sei angesichts des kurzen Zeitraums, für den sich die Nichtigerklärung ausgewirkt habe, nicht ersichtlich.