Sorgerechtsentzug bei Verdacht der Kindesmisshandlung

Das Bundesverfassungsgericht hat eine Verfassungsbeschwerde von Eltern nicht zur Entscheidung angenommen, denen wegen des Verdachts erheblicher Misshandlungen ihres nur wenige Monate alten Kindes weite Teile des Sorgerechts entzogen wurden. Das Oberlandesgericht habe in nicht zu beanstandender Weise eine erhebliche Kindeswohlgefährdung angenommen, auch wenn die Umstände der Vorfälle nicht vollständig geklärt werden konnten.

Sorgerecht wegen Verdachts der Kindesmisshandlung weitgehend entzogen

Aufgrund eines nicht genau aufklärbaren Vorfalls erlitt das nur wenige Monate alte Kind der miteinander verheirateten Beschwerdeführer einen Spiralbruch des Oberschenkels, der operativ versorgt werden musste. Daneben wurden drei Hämatome am Unterschenkel festgestellt, die nach Einschätzung der behandelnden Ärzte zu Griffmarken passten. Bei einer späteren Untersuchung des Kindes wurden ein vergrößerter Gehirnschädel (Macrocephalie) und eine subdurale Flüssigkeitsansammlung festgestellt. Die Ärzte vermuteten ein Subduralhämatom, verursacht durch ein Schütteltrauma. Sie informierten das Jugendamt, das das Kind im Einverständnis mit den Eltern in Obhut nahm. Das Amtsgericht entzog den Eltern daraufhin weite Teile des Sorgerechts, insbesondere das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Eltern wies das Oberlandesgericht zurück. Dagegen legten die Eltern Verfassungsbeschwerde ein und rügten eine Verletzung ihres Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG.

BVerfG: Keine Verletzung des Elternrechts – Beweiswürdigung des OLG fehlerfrei

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Die Beschwerdebegründung zeige die Möglichkeit einer Verletzung des Elternrechts nicht auf. Dem OLG seien bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts keine Fehler unterlaufen. Es habe sich nach Einholung mehrerer medizinischer Gutachten und weiterer ärztlicher Stellungnahmen auf der Grundlage einer ausführlichen Beweiswürdigung die Überzeugung verschafft, dass der Oberschenkelbruch auf körperlichen Misshandlungen im elterlichen Haushalt und der vergrößerte Gehirnschädel entweder ebenfalls auf körperlichen Misshandlungen oder aber auf einem Sturz beruhe, den einer der Elternteile bemerkt haben müsse, ohne aber Hilfe zu holen.

Komplettausschluss alternativer Ursache mangels konkreter Anhaltspunkte nicht erforderlich

Das vom OLG dabei herangezogene Beweismaß sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es habe in Übereinstimmung mit der fachrechtlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auf die Grundsätze der freien Beweiswürdigung nach § 286 ZPO auch im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit zurückgegriffen und als Maß für den Beweis einen Grad von Gewissheit ausreichen lassen, der Zweifeln Schweigen gebiete, ohne sie völlig auszuschließen. Eine Stoffwechselerkrankung als behauptete alternative Ursache für die subdurale Flüssigkeitsansammlung habe das OLG nicht durch eine aufwendige Untersuchung vollständig ausschließen müssen, nachdem die sonstigen beanstandungsfrei gewonnenen Beweisergebnisse keine konkreten Anhaltspunkte dafür ergeben hätten. Ferner habe das OLG mit Hilfe der medizinischen Sachverständigen die möglichen Verletzungsursachen überzeugend auf die beiden Möglichkeiten Schütteln oder Sturz eingegrenzt.

Fehlende vollständige Aufklärbarkeit steht Annahme der Kindeswohlgefährdung nicht entgegen

Das OLG habe auch zu Recht aus den in der Vergangenheit zugefügten Misshandlungen abgeleitet, dass das Kindeswohl im elterlichen Haushalt auch zukünftig erheblich gefährdet sein werde. Dass nicht alle Umstände der Vorfälle hätten geklärt werden können, stehe dem nicht entgegen. Eine nachhaltige Gefährdung des Kindes in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl, die eine Trennung des Kindes von seinen Eltern rechtfertigen würde, sei dann anzunehmen, wenn bei ihm bereits ein Schaden eingetreten sei oder sich eine erhebliche Gefährdung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lasse. Je gewichtiger der zu erwartende Schaden für das Kind oder je weitreichender mit einer Beeinträchtigung des Kindeswohls zu rechnen sei, desto geringere Anforderungen müssten an den Grad der Wahrscheinlichkeit gestellt werden, mit der auf eine drohende oder erfolgte Verletzung geschlossen werden könne, und desto weniger belastbar müsse die Tatsachengrundlage sein, von der auf die Gefährdung des Kindeswohls geschlossen werde.

BVerfG, Beschluss vom 16.09.2022 - 1 BvR 1807/20

Redaktion beck-aktuell, 11. November 2022.