BVerfG bestätigt Teilentzug der elterlichen Sorge wegen Überforderung eines Kindes

Eine Mutter, der wegen Kindeswohlgefährdung durch schulische Überforderung ihrer lernbehinderten Tochter das Sorgerecht teilweise entzogen wurde, ist mit ihrer Verfassungsbeschwerde dagegen gescheitert. Das Bundesverfassungsgericht hat die Beschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Die Beschwerdebegründung lasse eine Verletzung von Grundrechten nicht erkennen.

Mutter schickte Kind mit Lernbehinderung auf ein Gymnasium

Bei der Tochter wurde erstmals in der Grundschulzeit ein sonderpädagogischer Förderbedarf beim Lernen festgestellt. Später wurde dieser Förderbedarf bestätigt und bei ihr ein IQ zwischen 63 und 74 ermittelt. Gegen den Rat der Fachkräfte meldete die Mutter ihre Tochter zunächst auf einem Gymnasium an. Dort kam es jedoch nach kurzer Zeit zu erheblichen Konflikten. Wegen Übergriffen auf Mitschüler wurde die Tochter dauerhaft von der Schule ausgeschlossen. Anschließend besuchte sie täglich drei Stunden eine Realschule Plus. Auch dort kam es aber zu erheblichen Konflikten mit Lehrern und Mitschülern. 

BVerfG: Elternrecht durch Teilsorgerechtsentzug nicht verletzt

Das Familiengericht entzog der Mutter unter anderem das Recht zur Regelung schulischer Belange ihrer Tochter, weil das körperliche und seelische Wohl der Tochter aufgrund eines Versagens ihrer Mutter nachhaltig gefährdet sei. Die Beschwerde der Mutter dagegen wies das OLG zurück. Mutter und Tochter legten Verfassungsbeschwerde ein, die das BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen hat. Eine Verletzung des Elternrechts der Mutter aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sei anhand der Beschwerdebegründung und der dazu vorgelegten Unterlagen nicht erkennbar. Nach den OLG-Feststellungen setze die Mutter ihre Tochter durch überhöhte Erwartungen von Leistungen, die diese auch mit Unterstützung nicht erbringen könne, unter einen permanenten Leistungsdruck, der eine dauernde Belastung des Kindes bewirke. Diese Belastung der Tochter finde in aggressivem Verhalten in der Schule, Traurigkeit, Verzweiflung und fehlender Lebenslust bis hin zu Suizidgedanken ihren Ausdruck. Es sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die Gerichte das Verhalten der Mutter als nicht mehr angemessenen Leistungsdruck gewertet und das Wohl der Tochter dadurch gefährdet gesehen haben.

Möglicher Anspruch auf inklusive Beschulung stünde Berücksichtigung der Überforderung nicht entgegen

Eine andere Beurteilung ergibt sich laut BVerfG auch dann nicht, wenn ein möglicher individueller Anspruch der Tochter auf eine inklusive Beschulung zu berücksichtigen wäre. Aus Art. 24 UN-Behindertenkonvention könne jedenfalls - unabhängig davon, ob ein solcher Anspruch danach bestehen könne - nicht der Schluss gezogen werden, das Familiengericht dürfe schwere Belastungen des Kindes mit Behinderung ungeachtet der Umstände des Einzelfalls dann nicht berücksichtigen, wenn sie damit verbunden sind, wie die Eltern die elterliche Sorge in Schulangelegenheiten ihres Kindes ausüben und was sie von ihrem Kind und von der Schule im Rahmen inklusiver Beschulung verlangen. Weder gebiete das Völkerrecht ein derartiges Verständnis des Familienrechts noch wäre es so mit Verfassungsrecht vereinbar.

Mögliche Benachteiligung der Tochter wäre gerechtfertigt

Ob ein Teilentzug des Sorgerechts der Mutter die Tochter mittelbar wegen einer Behinderung benachteilige (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) könne offen bleiben. Denn selbst wenn eine Benachteiligung vorläge und der Teilentzug deshalb strengeren Anforderungen unterliegen sollte, könnte ein Verfassungsverstoß hier nicht festgestellt werden: Die Annahme einer Kindeswohlgefährdung durch die Fachgerichte aufgrund des von ihnen festgestellten Sachverhalts lasse keine beachtlichen Auslegungsfehler erkennen. Als Erfüllung des Anspruchs auf staatlichen Schutz aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG erweise sich der Teilsorgerechtsentzug auch als verhältnismäßig. Der Eingriff sei insbesondere auch erforderlich. Das OLG habe eine Kindeswohlgefährdung durch die Überforderung der Tochter an der Regelschule festgestellt. Diese Überforderung werde dadurch verstärkt, dass ihre Mutter die vorhandenen Hilfsangebote - insbesondere einen zieldifferenten Unterricht - ablehnt. Angesichts der festgestellten schwerwiegenden, vor allem aus dem Verhalten der Mutter folgenden Beeinträchtigungen des Kindeswohls ihrer Tochter habe das OLG den Entzug von Teilen des Sorgerechts ohne Verstoß gegen Verfassungsrecht als angemessen bewertet.

BVerfG, Beschluss vom 14.09.2021 - 1 BvR 1525/20

Redaktion beck-aktuell, 14. Oktober 2021.