Thüringer AfD wendet sich gegen Verordnung zur Eindämmung der Pandemie
Die Antragstellerin, die Fraktion der AfD im Thüringer Landtag, hat die Thüringer Verordnung über außerordentliche Sondermaßnahmen zur Eindämmung einer sprunghaften Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 (ThürSARS-CoV-2-Sonder-EindmaßnVO) vom 31.10.2020 im Wege eines abstrakten Normenkontrollverfahrens nach Art. 80 Abs. 1 Nr. 4 ThürVerf in Verbindung mit §§ 11 Nr. 4, 42 ThürVerfGHG angegriffen. Die Antragstellerin hält die Verordnung sowohl formell als auch materiell für mit der Thüringer Verfassung unvereinbar und deshalb für nichtig. Sie ist der Auffassung, dass angesichts des Ausmaßes der zur Eindämmung des Coronavirus erlassenen Ge- und Verbote die Verordnungsermächtigung in § 32 IfSG in Verbindung mit § 28 IfSG, auf die sich die Verordnung stützt, nicht mehr ausreiche.
Regelungen in grundrechtsrelevantem Bereich dürfen nicht Exekutive überlassen werden
Werde ein Exekutivorgan (zweite Gewalt) gesetzgeberisch tätig, benötige es eine Befugnis der Legislative (erste Gewalt), in der hinreichend bestimmt wird, wozu und in welchem Ausmaß im Einzelnen die Exekutive ermächtigt wird, erläutert der VerfGH die verfassungsrechtliche Problematik. Aus dem Rechtsstaats- und auch dem Demokratieprinzip folge, dass das Parlament als unmittelbar demokratisch legitimierter Gesetzgeber bestimmte Gegenstände der Rechtsetzung nicht der Exekutive überlassen darf und selbst über alle wesentlichen Fragen des Gemeinwesens zu entscheiden hat. Zu den wesentlichen Fragen des Gemeinwesens zählten in der Regel solche des grundrechtsrelevanten Bereichs, also jene, die wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte sind.
Angegriffene Verordnung betrifft wesentliche Fragen des Gemeinwesens
Die von der AfD hier angegriffene Verordnung stütze sich auf die Ermächtigungsgrundlage in § 32 IfSG in Verbindung mit § 28 IfSG. Es stehe außer Zweifel, dass sie – ebenso wie die ihr zeitlich vorausgehenden und nachfolgenden Verordnungen – zu Grundrechtseingriffen ermächtigt, die nach ihrer Reichweite, ihrer Intensität und ihrer zeitlichen Dauer in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ohne Beispiel sind, und sie folglich wesentliche Fragen des Gemeinwesens zum Gegenstand habe, so der Thüringer VerfGH.
Ermächtigungsgrundlage nach Erlass angegriffener Verordnung nachgebessert
In Literatur und Rechtsprechung waren laut VerfGH Thüringen bereits vor Erlass der angegriffenen Verordnung erhebliche Zweifel formuliert worden, wonach die Ermächtigungsgrundlage in § 32 IfSG in Verbindung mit § 28 IfSG für die in den einzelnen Coronaschutzverordnungen der Länder angeordneten Grundrechtseinschränkungen nicht beziehungsweise in Anbetracht der zeitlichen Dauer der Maßnahmen nicht mehr ausreichend sei. Der Bundesgesetzgeber habe hierauf reagiert und mit § 28a IfSG am 18.11.2020 eine spezielle Ermächtigungsgrundlage geschaffen, die aber bei Erlass der angegriffenen Verordnung am 31.10.2020 noch nicht bestanden habe.
Thüringer VerfGH: Ermächtigungsgrundlage gerade noch ausreichend
Vor diesem Hintergrund ist der Thüringer VerfGH mehrheitlich zu der Rechtsauffassung gelangt, dass die im Zeitpunkt des Verordnungserlasses allein geltende Bestimmung der Generalklausel des § 28 IfSG für einen Übergangszeitraum und auch gerade noch für die angegriffene Verordnung als Ermächtigungsgrundlage ausreichend war. In seinem Urteil vom 26.03.2021 (BeckRS 2021, 9552) hat jedoch das Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt entschieden, dass einzelne Regelungen der dortigen, sich auf § 28 IfSG stützenden Coronaverordnung nicht von der gesetzlichen Grundlage gedeckt und deshalb nichtig seien und einen etwaigen Übergangszeitraum für Ausnahmen von den Anforderungen an die Regelungsdichte einer Verordnungsermächtigung jedenfalls bereits im September 2020 als verstrichen angesehen.
VerfGH setzt Verfahren aus und ruft BVerfG an
Er sei daher an seiner konkreten Entscheidung in der Sache gehindert, so der VerfGH Thüringen. Deswegen habe er das Verfahren ausgesetzt, um zunächst nach Art. 100 Abs. 3 Satz 1 GG eine Entscheidung des BVerfG zu den zwischen den Landesverfassungsgerichten divergierenden Rechtsauffassungen einzuholen. Das BVerfG möge unter anderem klären, ob es mit dem Parlamentsvorbehalt und der darauf beruhenden Wesentlichkeitstheorie vereinbar war, bei Bestehen einer Gefährdungslage mit erheblichen prognostischen Unsicherheiten für eine Übergangszeit die infektionsschutzrechtliche Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG als ausreichende gesetzliche Ermächtigung anzusehen. Falls das BVerfG diese Frage bejaht, möchte der VerfGH Thüringen wissen, ob diese Übergangszeit auch dann noch nicht als überschritten angesehen werden kann, wenn seit Ausbruch der Pandemie bereits über ein halbes Jahr vergangen, der parlamentarische Gesetzgeber jedoch untätig geblieben ist, indes hinreichend deutlich wird, dass er bereits konkret beabsichtigt, in naher Zukunft eine umfassende und weitreichende Grundlage mittels entsprechender Gesetzesänderung zu schaffen. Ergänzend hat der Thüringer VerfGH noch zwei weitere Fragen in seine Vorlage an das BVerfG aufgenommen. Der Beschluss ist mit sechs zu drei Stimmen ergangen.