BVerfG-Richterwahl: Nicht der Modus ist das Problem, sondern die Abgeordneten
© Adobe Stock / Taucova

Sollte die Wahl von Richterinnen und Richtern ans BVerfG reformiert werden? Nach dem Drama um Frauke Brosius-Gersdorf kam diese Forderung auf. Doch die Abgeordneten sollten sich lieber selbst fragen, ob sie ihre Rolle im parlamentarischen System richtig verstehen, meint Oliver Lepsius.

Die gescheiterte Verfassungsrichterwahl im Deutschen Bundestag am 11. Juli 2025 und die Diskussion um die Personalie der Potsdamer Jura-Professorin Frauke Brosius-Gersdorf haben die juristische Öffentlichkeit in diesem Sommer wochenlang in Atem gehalten. Nachdem die Nominierung beinahe eine Regierungskrise verursacht hatte, stellten einige im Anschluss die Frage, ob das Wahlverfahren für das BVerfG noch zeitgemäß ist oder modifiziert werden sollte. Nun ändert man nicht Regeln oder Wahlverfahren, nur weil es einmal nicht geklappt hat. Bevor man an Änderungen des Wahlverfahrens denkt, sollte man sich erst einmal mit Sinn und Zweck der bestehenden Regelung und den daraus folgenden Handlungsoptionen aber auch Handlungsbeschränkungen auseinandersetzen. 

Gegenwärtig werden Kandidatinnen und Kandidaten für Karlsruher Richterämter im Richterwahlausschuss des Bundestags überprüft und anschließend gewählt, bevor ihre endgültige Bestätigung im Plenum erfolgt. Dieser Ablauf existiert erst seit 2015, nachdem zuvor die Wahl nach Karlsruhe gänzlich an den Ausschuss delegiert war. Mit der Wahl im Plenum wollte der Gesetzgeber dem Vorwurf einer Hinterzimmer-Mauschelei begegnen und dem Gericht eine stärkere demokratische Legitimation verschaffen.

Das Dilemma der jetzigen Lösung liegt darin, dass das Wahlrecht der Abgeordneten im Plenum nicht mit einem Auswahlrecht einhergeht. Es wird von ihnen erwartet, dem vom Wahlausschuss unterbreiteten Vorschlag zuzustimmen. Als Alternative bleibt ihnen nur die Nein-Stimme, die jedoch unweigerlich das Votum des Richterwahlausschusses diskreditiert, in dem in der Regel die eigenen Fraktionsvertreterinnen und -vertreter zugestimmt haben. Die Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion, die sich weigerten, Frauke Brosius-Gersdorf zu bestätigen, wandten sich am Ende gegen die eigenen Fraktionsvertreter, damit gegen die eigene Koalition. Sie lösten eine politische Krise aus, die weit über die Personalfrage hinausreicht. 

Auswahl von Verfassungsrichtern gehört in den Ausschuss

Schon dieser Effekt zeigt, dass eine Wahl ohne Auswahl eigenständigen Kriterien folgt; sie dient jedenfalls nicht der Verwirklichung der individuellen Entscheidungsfreiheit. Das ist aber auch sonst bei der Abstimmung im Plenum nicht anders: Bei Gesetzesbeschlüssen wird entlang der Koalitionslinie abgestimmt, weil es um einen ausgehandelten und in dieser Form mehrheitsfähigen Kompromissvorschlag geht. Wollte ein Abgeordneter hier ein eigenständiges Zustimmungsrecht verwirklichen, würde er die arbeitsteilige Willensbildung in der Fraktion und in der Koalition in Frage stellen. Er will schließlich auch, dass umgekehrt die anderen Fraktionsmitglieder denjenigen Vorlagen zustimmen, an deren Aushandlung er mitgewirkt hat. Reziprok ist dann jeder zur Zustimmung bei den Fraktionsvorlagen verpflichtet, an denen er nicht mitgewirkt hat.

Warum sollte für die Wahl der Richterinnen und Richter des BVerfG durch den Deutschen Bundestag etwas anderes gelten? In der parlamentarisch-arbeitsteiligen Logik ist für das Plenum keine Auswahl mehr vorgesehen, diese wurde bereits im Richterwahlausschuss getroffen. Dort gehört sie auch hin, weil verschiedene Kriterien in einen Ausgleich zu bringen sind, die eine besondere Fachexpertise voraussetzen. Die Mitglieder einer Fraktion können als Gruppe hier nicht helfen. Sie müssten nicht nur "im Rechtsleben erfahren sein", wie es für die Mitglieder im Richterwahlausschuss der Bundesrichter verlangt wird. Hinzu kommt: Wenn ein Senat aus acht Richterinnen und Richtern besteht, sollen diese nicht über identische Fähigkeiten verfügen, denn wozu bedürfte es sonst eines Kollegiums von acht? Schon die hohe Zahl erhebt die Erwartung des Binnenpluralismus. Es wird daher auf die Mischung verschiedener Kriterien ankommen, wobei die Fähigkeit, eine Distanz zum geltenden Recht einzunehmen (sei es über rechtsphilosophische, ethische, rechtshistorische, rechtssozilogische, rechtsvergleichende Maßstäbe) genauso eine Rolle spielen dürfte wie pseudorepräsentative Kriterien (Geschlecht, Herkunft, Rollenerfahrungen etc.). Solche Kriterienbündel können nicht öffentlich diskutiert werden. § 6 BVerfGG sieht folgerichtig eine Wahl ohne Aussprache vor. Das ist auch sonst bei Wahlen durch den Deutschen Bundestag so (Bundeskanzler, Präsident des Bundesrechnungshofs, Wehrbeauftragter). 

Die Wahl dient nicht der Auswahl, sondern der Zustimmung. Das Plenum erteilt einem anderen Verfassungsorgan die nötige demokratische Legitimation, die nur über den Deutschen Bundestag vermittelt werden kann. Die Unabhängigkeit des BVerfG (Art. 93 Abs. 1 GG) strahlt auch auf den Wahlakt aus. Die Abgeordneten können verfassungsrechtlich keine Erwartung hegen, mit ihrer Zustimmung eigene Positionen zu verwirklichen. Sie agieren als Vertreterinnen und Vertreter des ganzen Volkes (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) und verschaffen so Legitimation (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG). Weil eine Zweidrittelmehrheit verlangt wird, geht es hier nicht um die Majorität des Demokratieprinzips, also eine Mehrheit, um die in Wahlkämpfen gerungen wird und die politisch kontrovers entscheidet, sondern um einen breit geteilten Zustimmungsakt, der der Pluralismussicherung bei der Auswahlentscheidung dient. Das Zweidrittelerfordernis wirkt im Auswahlprozess integrierend und kompromissfördernd. Es kann aber keine im Moment der Wahl erstmals aktivierbare Hürde sein, weil eine entsprechende parlamentarische Willensbildung in der Sache ja gar nicht stattfindet und, wie gesagt, auch nicht stattfinden kann.

Kontroverse um Brosius-Gersdorf: Eine Richterwahl ist keine Gewissensentscheidung

Der Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf haben rund 50 Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion die Zustimmung aus Gewissensgründen verweigert. Sie sahen sich dazu aus Art. 38 GG berechtigt. Man muss aber die Frage stellen: Kann eigentlich das freie Mandat der Abgeordneten bei der Wahl von Verfassungsrichterinnen und -richtern punktuell als Gewissensentscheidung deklariert werden? Eine Gewissensentscheidung ist nach dem BVerfG "eine ernste sittliche, an den Kategorien von 'Gut' und 'Böse' orientierte Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte." Kann eine Verfassungsrichterwahl überhaupt einen verfassungsrechtlich erheblichen Gewissenskonflikt auslösen? Man kann jedenfalls nicht sagen, man lehne eine Person aus Gewissensgründen ab. Das verletzte den Würdeanspruch dieser Person. Man kann auch nicht die Zusammensetzung eines anderen Verfassungsorgans aus Gewissensgründen ablehnen. Könnte man aber den Gewissenskonflikt mit einer inhaltlichen Position begründen, die die Kandidatin vertritt? 

Bei der Richterwahl ist zunächst keine ernste sittliche, an den Kategorien von "Gut" und "Böse" orientierte Entscheidung zu treffen. Entschieden wird über die Organzusammensetzung, nicht über ein Urteil. Mit der Wahl wird gerade nicht eine bestimmte Position in konkrete Rechtsprechung umgesetzt: Es gibt keinen grundsätzlich zurechenbaren Zusammenhang zwischen den Positionen einer Richterin vor der Wahl und ihrem Entscheidungsverhalten nach der Wahl. Die landläufige Vermutung, Richterinnen und Richter entschieden nach den Linien der Parteien, die sie vorgeschlagen haben, hat sich nicht bestätigt, lässt sich jedenfalls nicht generalisieren. So hat etwa die SPD immer wieder Wert darauf gelegt, Frauen zu nominieren, selbst wenn diese so bürgerlicher Herkunft waren, dass sie ersichtlich vorher nicht die SPD gewählt haben dürften. Es zeugte jedenfalls von Unkenntnis der Senatsberatungen, wenn man annähme, hier ließe sich durch eine Personalauswahl eine Position durchsetzen. Dann aber kann eine bestimmte Position eines Kandidaten oder einer Kandidatin kein Gegenstand einer Gewissensentscheidung von Abgeordneten sein, weil es an einer Entscheidung fehlt, die einen Gewissenskonflikt auslösen kann. 

Eine Grundvoraussetzung von Demokratie ist schließlich der reziproke Relativismus: Man muss die Meinungen anderer nicht teilen, sie aber doch prinzipiell als Meinungen respektieren. Das kann man nicht über die Aktivierung des Gewissens nach dem eigenen Wertesystem aushebeln. Wer dies anders sieht, müsste überdies dem BVerfG unterstellen, keine eigenständige Organwillensbildung betreiben zu können. Die Gewissensablehnung einer Richterwahl setzt die Prämisse voraus, entweder dem Gericht keine Unabhängigkeit zuzutrauen oder den Binnenpluralismus innerhalb des Gerichts abzulehnen, obwohl dieser gerade durch das Zweidrittelerfordernis hergestellt werden soll. 

Reformforderungen sind alarmistischer Aktionismus

Letztlich ging es im Fall von Brosius-Gersdorf vordergründig um ihre Auffassung zum Schwangerschaftsabbruch und damit um eine Grundrechtsfrage, die vor 50 Jahren vom BVerfG in einer bestimmten Richtung entschieden wurde, aber dogmatisch seither umstritten ist. Der Kern der Kontroverse liegt daher nicht bei der Kandidatin, sondern in der Rechtsprechung selbst. Zu solchen Kontroversen darf man als Spitzenjuristin eine Meinung haben, und solche dogmatischen Diskurse, das hat die Kontroverse auch gezeigt, lassen sich im und mit dem Plenum des Deutschen Bundestages nicht führen. Die Nein-Sagerinnen und -Sager haben sich dem Angebot eines juristischen Fachgesprächs entzogen – und das ist aus ihrem Entscheidungshorizont nachvollziehbar. Dann aber lässt sich auch darauf keine Ablehnung stützen. Letztlich hieße das Argument hier nur: Ich stimme der Wahl nicht zu, weil ich eine Position, die das BVerfG vor 50 Jahren eingenommen hat, versteinern lassen möchte. Nur kann man einen Diskurs über das Pro und Contra nicht durch eine Nichtwahl unterbinden, nicht einmal im Gericht, das im Übrigen seit jeher selbst mit Befangenheitsregeln reagiert, sollten sich Richterinnen und Richter zu einer Entscheidung vorher in entscheidungserheblicher Weise öffentlich geäußert haben.

Gibt es also Reformbedarf? Ich halte eine Diskussion, ob man aufgrund eines einmaligen Vorfalls gleich die Regeln der Verfassungsrichterwahl ändern soll, für alarmistischen Aktionismus. Schon gar nicht sollte man aus dem Zustimmungsprozess im Plenum einen Auswahlprozess machen (etwa Vorschlag einer Dreierliste). Es wäre stattdessen nötig, sich über die Willensbildung im Plenum anhand von Fraktionslinien und die Grenzen der Gewissensentscheidung bei zustimmenden Wahlakten Gedanken zu machen. Das Problem liegt nicht im Verfahren der Richterwahl, sondern bei selektiv fehlender Regierungserfahrung und in der Überschätzung der Gewissensentscheidung als eines punktuell aktivierbaren Entscheidungsvorbehalts.

Prof. Dr. Oliver Lepsius ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Verfassungstheorie an der Universität Münster.

Gastkommentar von Prof. Dr. Oliver Lepsius, 2. September 2025.

Mehr zum Thema