Regierung hätte Bundestag früher über Position in Griechenland-Krise unterrichten müssen

Die Bundesregierung hätte den Deutschen Bundestag 2015 früher über ihre Verhandlungslinie zum Verbleib oder vorübergehenden Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone unterrichten müssen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht auf eine Organklage der Bundestagsfraktion der Grünen hin entschieden und eine Verletzung der Unterrichtungspflichten aus Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG festgestellt.

Ringen um Griechenland-Lösung in Schuldenkrise 2015

Zur Bewältigung der Staatsschulden-Krise verhandelten die Euro-Gruppe sowie weitere Teilnehmer auf einer Tagung vom 11. bis zum 12.07.2015 über ein drittes Hilfsprogramm für Griechenland und bereiteten den dazu stattfindenden Euro-Gipfel am 12. und 13.07.2015 vor. Bei einer Unterrichtung des Haushaltsausschusses des Bundestages am 30.06.2015 führte der Bundesfinanzminister aus, dass Griechenland nicht ohne Reformprogramm im Euro bleiben könne, sondern im äußersten Fall vom Zahlungssystem der Europäischen Zentralbank abgeschnitten werden müsse und sich in diesem Fall die Notwendigkeit einer vorübergehenden Parallelwährung ergeben könnte. Die Bundesregierung tauschte sich zwischen dem 09. und dem 11.07.2015 in intensiven Beratungen mit den Regierungen der anderen Mitgliedstaaten der Eurozone aus, wobei vorrangiges Ziel eine Verhandlungslösung und ein Verbleib Griechenlands in der Eurozone blieben. Dabei stellte der Bundesfinanzminister jedoch auch die Frage in den Raum, welche Optionen im Fall eines Scheiterns der Verhandlungen bestünden.

Diskussionspapier des Finanzministeriums vor Euro-Treffen enthielt Auszeit-Option

In Vorbereitung auf die Verhandlungen der Euro-Gruppe und des Euro-Gipfels erstellte das Bundesfinanzministerium am 10.07.2015 gegen 14.00 Uhr ein in englischer Sprache abgefasstes Dokument. Darin wurden die von Griechenland am Tag zuvor übermittelten Reformvorschläge als unzureichend zurückgewiesen und als Option für den Fall einer fehlenden Umsetzungsperspektive für Reformen zügige Verhandlungen über eine Auszeit Griechenlands aus der Eurozone angeboten. Ausweislich der Schilderung des damaligen Vorsitzenden der Euro-Gruppe wurde das Dokument vom 10.07.2015 am selben Abend per E-Mail vom Bundesfinanzministerium an ihn, weitere Spitzenpolitiker und eine kleine Gruppe von Spitzenbeamten der Eurozone verschickt. Während der Tagung der Euro-Gruppe stellte der Bundesfinanzminister die Frage, wie bei einem Scheitern der Verhandlungen mit der griechischen Regierung vorzugehen sei, erneut in den Raum. Dabei lag ihm das Dokument vom 10.07.2015 vor. In das von der Euro-Gruppe erstellte Abschlussdokument wurden am 12.07.2015 an dessen Ende in Klammern zwei Sätze zu einer möglichen Auszeit Griechenlands aus der Eurozone und zu einer Übertragung griechischer Vermögenswerte aufgenommen, die große Ähnlichkeit mit Sätzen aus dem Dokument des Bundesfinanzministeriums aufwiesen. Das Abschlussdokument der Euro-Gruppe wurde einschließlich der Klammern dem anschließenden Euro-Gipfel übermittelt und dort in die Beratungen miteinbezogen.

Diskussionspapier Bundestag nicht vor Treffen der Euro-Gruppe zugeleitet

Die Antragsgegnerin leitete dem Deutschen Bundestag das Dokument vom 10.07.2015 am 12.07.2015 gegen 16.00 Uhr im Anschluss an die Sitzung der Euro-Gruppe zu. Über die Ergebnisse des anschließenden Euro-Gipfels wurde der Deutsche Bundestag durch die Bundesregierung am 14. und 16.07.2015 unterrichtet. Die Antragstellerin, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen,  rügte, die Bundesregierung habe den Deutschen Bundestag über ihre Verhandlungslinie zum Verbleib oder vorübergehenden Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone zu spät unterrichtet. Sie machte per Organklage die Verletzung parlamentarischer Unterrichtungsrechte gemäß Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG geltend.

BVerfG: Regierung hätte über Verhandlungslinie früher unterrichten müssen

Der Organantrag hatte Erfolg. Laut BVerfG verstieß die Bundesregierung gegen ihre Unterrichtungspflichten aus Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG. Sie hätte den Bundestag noch vor Beginn der Sitzung der Euro-Gruppe am 11.07.2015 über ihre Verhandlungslinie in der Euro-Gruppe und beim anschließenden Euro-Gipfel zum Verbleib oder Austritt Griechenlands informieren müssen. Die Bundesregierung müsse den Bundestag und den Bundesrat in Angelegenheiten der Europäischen Union gemäß Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt unterrichten. Diese Pflicht erstrecke sich auch auf Initiativen und Positionen der Bundesregierung. Die "umfassende" Unterrichtung des Deutschen Bundestages müsse ihm in erster Linie eine frühzeitige und effektive Einflussnahme auf die Willensbildung der Bundesregierung eröffnen.

Budgetrecht und haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages betroffen

Die Verhandlungsposition der Bundesregierung einschließlich ihrer Lösungsvorschläge sei der Unterrichtungspflicht gemäß Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG unterfallen. Die Verhandlungen über die Gewährung weiterer Finanzhilfen im hohen zweistelligen Milliardenbereich für Griechenland durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus beträfen unmittelbar das Budgetrecht und die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages als unverfügbarer Teil des grundgesetzlichen Demokratieprinzips. Gleiches gelte für die in die Diskussion eingebrachte Option eines vorübergehenden Austritts Griechenlands aus der Eurozone, da auch dieses Szenario mit ganz erheblichen Auswirkungen auf den Integrationsprozess der Europäischen Union sowie auf den Bundeshaushalt verbunden wäre. In Anbetracht dieser herausragenden Bedeutung und der Komplexität der Angelegenheit sei eine besonders intensive Beteiligung des Deutschen Bundestages geboten gewesen.

Regierung muss sich Verhandlungsposition zurechnen lassen

Die Initiative und Positionierung der Bundesregierung im Vorfeld der Sitzung der Euro-Gruppe und des Euro-Gipfels habe auch den Inhalt des Schriftstücks vom 10.07.2015 umfasst. Die Regierung könne sich nicht darauf berufen, es habe sich insofern lediglich um interne Überlegungen des Bundesfinanzministeriums gehandelt. Der Bundesfinanzminister habe in der Sitzung des Haushaltsausschusses am 16.07.2015 betont, dass seine inhaltliche Position bei der Tagung der Euro-Gruppe innerhalb der Bundesregierung abgestimmt gewesen sei. Bereits am 09.07.2015 habe zudem ein Gespräch zwischen der Bundeskanzlerin, dem Vizekanzler sowie dem Bundesfinanzminister stattgefunden, in dem jedenfalls am Rande auch ein freiwilliges, temporäres Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone thematisiert worden sei. Außerdem sei der Bundesregierung die Verhandlungsposition eines ihrer Mitglieder zurechenbar, wenn dieses die Bundesrepublik Deutschland in einem Verhandlungsprozess auf europäischer Ebene vertritt und erkennbar als deren Repräsentant auftritt.

Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung verlassen

Grenzen der Unterrichtungspflicht ergäben sich zwar aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung. Denn die Regierung besitze einen Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung, der einen grundsätzlich nicht ausforschbaren Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich einschließe. Zu diesem Kernbereich gehöre jedenfalls die Willensbildung der Regierung, sowohl hinsichtlich der Erörterungen im Kabinett als auch bei der Vorbereitung von Kabinetts- und Ressortentscheidungen. Dieser ende aber, wenn und soweit die Bundesregierung Zwischenergebnisse erreicht oder Positionierungen ausgearbeitet hat und schon diese zur Grundlage ihres nach außen gerichteten Handelns macht. Die Willensbildung der Bundesregierung sei in derartigen Fällen jedenfalls abgeschlossen, wenn sie mit ihrer Initiative aus dem Bereich der regierungsinternen Abstimmung hinaustreten und mit einer eigenen, auch nur vorläufigen Position in einen Abstimmungsprozess mit Dritten eintreten will.

Verhandlungsposition war für Abstimmungsprozess mit EU-Partnern bestimmt

Der Inhalt des Schreibens vom 10.07.2015 habe die zu diesem Zeitpunkt bestehende Verhandlungsposition der Bundesregierung beziehungsweise die aus Sicht der Bundesregierung bestehenden Handlungsoptionen im Außenverhältnis zu Dritten wiedergegeben, sei nach außen hin kommuniziert und den anderen Verhandlungsteilnehmern inhaltlich zur Kenntnis gebracht worden. Seine Bestimmung für einen Abstimmungsprozess mit Dritten zeige sich nicht zuletzt darin, dass das Dokument in englischer Sprache angefertigt wurde und einzelne Sätze daraus in leicht abgewandelter Form Eingang in das offizielle Abschlussdokument der Euro-Gruppe fanden. Darüber hinaus sei das Dokument nach der unbestrittenen Darstellung des damaligen Vorsitzenden der Euro-Gruppe am Abend des 10.07.2015 vom Bundesfinanzministerium an ihn, weitere Spitzenpolitiker und eine kleine Gruppe von Spitzenbeamten der Eurozone verschickt worden. Darin liege der Beginn eines Abstimmungsprozesses auf europäischer Ebene, über dessen inhaltliche Ausrichtung der Deutsche Bundestag vorab hätte informiert werden müssen.

Unterrichtungspflicht trotz "Vorläufigkeit" der Position

Dem stehe auch nicht entgegen, dass die Verhandlungsposition der Bundesregierung nach deren Vortrag vor Beginn der Sitzung der Euro-Gruppe nicht endgültig festgelegt und damit "volatil" war. Führt die Bundesregierung im Rahmen einer überaus bedeutsamen Angelegenheit neue Optionen und Lösungsvorschläge in die Diskussion mit ihren europäischen Partnern ein, so unterliege auch dieser nach außen gerichtete Willensentschluss der Unterrichtungspflicht nach Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG. Spätestens am 10.07.2015 um 14:00 Uhr habe festgestanden, dass die Bundesregierung in der Euro-Gruppe den Inhalt des Dokuments vom 10.07.2015 gegenüber den europäischen Verhandlungspartnern vortragen würde. Dazu habe auch gehört, das temporäre Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone als eine Handlungsoption in die Debatte einzuführen. Gegenstand der gebotenen Unterrichtung sei daher die Absicht der Bundesregierung, auf europäischer Ebene eine Diskussion zu den im Dokument vom 10.07.2015 enthaltenen Optionen anzustoßen. Die sonstigen dem Deutschen Bundestag unterbreiteten Informationen hätten nicht zur Erfüllung der Unterrichtungspflicht genügt.

Mitteilungspflicht bei Absicht der Einbringung in Verhandlungen auf EU-Ebene

Die Informationen über die Verhandlungsposition der Bundesregierung hätten dem Deutschen Bundestag zum frühestmöglichen Zeitpunkt und damit deutlich vor dem 12.07.2015 um 16:00 Uhr zugeleitet werden müssen. Eine Mitteilungspflicht bestehe, sobald feststehe, dass ein Vorschlag oder eine Initiative der Bundesregierung zum Gegenstand von Verhandlungen auf europäischer Ebene gemacht und damit nach außen kommuniziert werden soll. Sobald der für die Bundesregierung handelnde Bundesfinanzminister entschieden habe, welche Vorschläge er in die Verhandlungen der Euro-Gruppe einbringen würde, habe die Mitteilungspflicht gegenüber dem Bundestag bestanden. Dies sei hier spätestens nach Abfassung des Dokuments vom 10.07.2015 um 14.00 Uhr der Fall gewesen. Eine Unterrichtung habe auch nicht unter Verweis auf die für eine Stellungnahme des Deutschen Bundestages zu kurze Zeitspanne verwehrt werden dürfen. Ob und wie der Bundestag in Eilfällen auf eine ihm kurzfristig übermittelte Information reagiere und ob er hierzu Stellung nehme, bleibe seinem Einschätzungs- und Organisationsspielraum überlassen. Die spätere Informationsübermittlung nach Abschluss der Sitzung der Euro-Gruppe und nach Beginn des Euro-Gipfels könne den Verstoß gegen die Unterrichtungspflicht nicht mehr heilen.

Grüne: "Sieg für die parlamentarische Demokratie"

Die Grünen feierten die Entscheidung des BVerfG als "Sieg für die parlamentarische Demokratie". "Eine Hintergehung des Parlaments war und ist nicht hinnehmbar", erklärten die Abgeordneten Manuel Sarrazin und Sven-Christian Kindler als Initiatoren des Verfahrens. Es sei ein Skandal, dass der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) Griechenland aus dem Euro habe drängen wollen. "Dass er diese Initiative gegenüber dem Bundestag verheimlicht hat, erst recht." Der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Florian Toncar, nannte es "alarmierend, dass diese Bundesregierung immer wieder aufgefordert werden muss, verfassungsrechtliche Selbstverständlichkeiten wie eine frühzeitige und umfassende Information des Bundestages zu beachten".

BVerfG, Beschluss vom 27.04.2021 - 2 BvE 4/15

Redaktion beck-aktuell, 26. Mai 2021.

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