König: Verfassungsrechtliche Fragen stehen im Vordergrund
Bei der Verhandlung am 25.05.2023 richtete Frederikes Schwester über ihren Anwalt emotionale Worte an den Zweiten Senat. "Ihr Tod verjährt nicht in unserer Familiengeschichte", sagte der ehemalige Bundesanwalt Wolfram Schädler im Namen seiner Mandantin, die nicht nach Karlsruhe gekommen war. Jahrelang hatte Frederikes Vater für eine Reform der Strafprozessordnung gekämpft. Unter anderem stellte er eine Petition dafür ins Internet, die rund 180.000 Menschen unterschrieben. Der Kampf sei mit dem Tod ihres Vaters nicht vorbei, ließ Frederikes Schwester vortragen. Zeit schaffe keinen Frieden, der Schmerz werde nicht weniger. Die Familie hoffe auf Ruhe. Doch so schmerzhaft die Tat für die Angehörigen des Opfers noch immer sei, so sehr sie die Öffentlichkeit nach wie vor bewege, müsse sie angesichts davon losgelöster verfassungsrechtlicher Fragen in den Hintergrund treten, sagte die Vorsitzende Richterin Doris König.
Neuregelung der Wiederaufnahme auf dem Prüfstand
Denn das BVerfG will nun prüfen, ob die Neuregelung verfassungskonform ist. Es gehe um den Grundsatz im Grundgesetz, dass niemand wegen derselben Straftat mehrmals bestraft werden darf, erklärte König. Vor allem werde es darum gehen, ob das Verbot mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang abgewogen werden könne oder "abwägungs- und damit änderungsfest" sei. So müsse etwa geklärt werden, ob ein Freispruch von dem Grundsatz umfasst sei, erklärte Richterin Astrid Wallrabenstein. Die Änderung des § 362 StPO war Ende 2021 in Kraft getreten, beschlossen zu Zeiten der großen Koalition von Union und SPD im Bundestag. Vorher war es nur in wenigen Fällen möglich, ein rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren zuungunsten des Angeklagten noch einmal aufzurollen - etwa bei einem Geständnis. Seit der Reform geht das auch, wenn "neue Tatsachen oder Beweismittel" auftauchen. Die Regelung ist auf schwerste Verbrechen wie Mord oder Völkermord beschränkt, die nicht verjähren.
Freispruch unter Vorbehalt?
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte beim Ausfertigen des Gesetzes angeregt, dieses wegen verfassungsrechtlicher Zweifel "einer erneuten parlamentarischen Prüfung und Beratung zu unterziehen". Auch Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hatte nach dem Regierungswechsel im Bund dafür plädiert, es noch einmal unter die Lupe zu nehmen. Sonst stünde jeder Freispruch unter Vorbehalt. Als Bevollmächtigte der Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und SPD erklärten die Strafrechtsprofessoren Michael Kubiciel und Elisa Hoven, die Neuregelung sei auf absolute Ausnahmen beschränkt. Hoven bezeichnete sie als "sehr restriktiv". Die neuen Beweise oder Tatsachen müssten besondere Relevanz haben, betonten die Fachleute. Nicht jedes Beweismittel führe zu einer Wiederaufnahme.
Grundsatz "ne bis in idem" historisch bedingt
Ob ein neuer Fakt für einen Schuldspruch reiche, lasse sich aber erst am Ende eines Prozesses sagen, nicht vorher, entgegnete Strafrechtler Erol Pohlreich als Bevollmächtigter der Fraktionen von Grünen und FDP - damals in der Opposition. Der Preis für die Betroffenen sei ein neuer Prozess, den sie schon einmal durchlaufen hätten, und womöglich ein Fehlurteil. "Dieser Preis ist zu hoch", betonte der Professor. Zugleich machte Pohlreich klar: "Das Gesetz wird auch Unschuldige umfassen. Und das nicht zu knapp." Angesichts der damit verbundenen Folgen sei es besser, im Zweifel neun Schuldige davonkommen zu lassen als einen Unschuldigen noch einmal vor Gericht zu stellen. Dass der Grundsatz, jemanden nicht zweimal für dieselbe Tat bestrafen zu können, ins Grundgesetz geschrieben wurde, geht auch auf die Erfahrungen unter den Nationalsozialisten zurück, wo Willkür statt Rechtssicherheit herrschte. Man wollte ein "Bollwerk gegen staatlichen Machtmissbrauch" schaffen. Heute sei das Verhältnis zum Staat ein anderes. Er werde inzwischen eher als "Garant für gesellschaftlichen Frieden" angesehen, so Hoven.
Verdächtiger 2022 erneut verhaftet
Im Fall Frederike wird ein Mann verdächtigt, 1981 die 17 Jahre alte Schülerin aus Hambühren bei Celle vergewaltigt und erstochen zu haben. Damals konnte ihm das nicht sicher nachgewiesen werden. Erst wurde er verurteilt, legte erfolgreich Revision ein und wurde 1983 letztendlich rechtskräftig aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Nach einer neueren Untersuchung von DNA-Spuren könnte er aber doch der Täter sein. Im Februar 2022 wurde er erneut verhaftet, im August hätte am LG Verden der Prozess beginnen sollen. Doch das BVerfG verfügte kurz zuvor die Freilassung des Mannes. Er kam aus der Untersuchungshaft und bleibt unter Auflagen auf freiem Fuß, bis der Senat über seine Verfassungsbeschwerde entschieden hat. Sein Rechtsanwalt Johann Schwenn nannte die Neuregelung vor Gericht verfassungswidrig. Die Menschen sollten nicht mit dem Risiko eines "falschen Freispruchs" leben. Sein Kollege Yves Georg sprach von der Gefahr, das Gewaltmonopol des Staates könnte angezweifelt werden.
In vielen Ländern Wiederaufnahmeregelungen zuungunsten Angeklagter
Wie höchst komplex die Abwägung juristischer Aspekte ist, machte die Verhandlung deutlich, die sich über sechs Stunden zog. So ging es unter anderem darum, ob Gerechtigkeit dabei ein geeignetes Mittel sein kann, ob jemand im Laufe der Zeit auch immer wieder angeklagt werden könnte - und inwiefern das realistisch erscheint. Die Sachverständige Prof. Tatjana Hörnle vom Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht wies unter anderem darauf hin, dass es in vielen Ländern Regeln zur Wiederaufnahme von Strafverfahren zuungunsten Angeklagter gebe - teils mit präziserem Wortlaut. Just am Verhandlungstag wurde beispielsweise in England ein Mann wegen Mordes verurteilt - rund 30 Jahre nach einem Freispruch. Bis der Senat sämtliche Argumente abgewogen hat und eine Entscheidung in der Sache trifft, dürften erfahrungsgemäß Monate vergehen.