NSU 2.0: Vorerst keine Akteneinsicht für Verletzte

Eine von Rechtsextremisten bedrohte Geschädigte erhält vorläufig keine Einsicht in die Ermittlungsakte im Verfahren über die Abfrage personenbezogener Daten der Frau auf einem Frankfurter Polizeirevier. Das Bundesverfassungsgericht hält die Folgen der Verletzung der informationellen Selbstbestimmung der Polizistin, unter deren Kennung die Informationen abgefragt worden waren, für schwerwiegender als die vorläufige Verweigerung der Akteneinsicht für die Bedrohte.

Daten für extremistische Drohbriefe stammen aus Polizeirevier

Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen eine Polizeibeamtin in Frankfurt am Main, weil mit ihren Zugangsdaten in ihrem Revier personenbezogene Informationen aus einer Datenbank gezogen wurden. Anschließend verwendete ein anonymer Briefschreiber diese Daten, um unter anderem die Geschädigte zu bedrohen. Betroffen von den Vorfällen, die unter dem Namen "NSU 2.0" Bekanntheit erlangten, waren verschiedene Personen, unter anderem Anwältinnen, Anwälte und Politiker. Das Ermittlungsverfahren gegen die Polizistin wurde abgetrennt, lief aber noch gegen "Unbekannt" weiter. Die Verletzte forderte Einsicht in die Akte, um eine Amtshaftungsklage gegen das Land Hessen weiter begründen zu können. Die Polizistin wollte das verhindern: Sie forderte erst einmal, selbst in die Akte schauen zu können, um anschließend ihre Zustimmungsverweigerung ordentlich begründen zu können. Das Amtsgericht Frankfurt am Main bewilligte die Akteneinsicht an die Verletzte, ohne die angekündigte Begründung der Polizistin abzuwarten. Daraufhin erhob diese Anhörungsrüge und wandte sie sich mit einem Eilantrag an das Bundesverfassungsgericht, um die Aushändigung der Akte zu verhindern, bis über ihre Anhörungsrüge entschieden wird - mit Erfolg.

Akteneinsicht schafft vollendete Verletzung

Die unterlassene Anhörung der Polizistin stellt nach Ansicht der Verfassungsrichter einen schwerwiegenden Verfahrensfehler dar und verletzt ihr rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG. Da in der Hauptsache der Ausgang des Verfahrens offen sei, müsse vorläufig eine Folgenabwägung stattfinden: Im Vergleich zwischen dem Recht auf Akteneinsicht nach § 406e Abs. 1 StPO und dem informationellen Selbstbestimmungsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG der Beamtin überwiegt den Karlsruher Richtern zufolge das Interesse der Polizistin. Die Amtshaftungsklage der bedrohten Anwältin müsse gegebenenfalls nur etwas verzögert werden, während die Verletzung des informationellen Selbstbestimmungsrechts der Polizistin durch eine Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr zu heilen wäre. 

BVerfG, Beschluss vom 08.10.2021 - 1 BvR 2192/21

Redaktion beck-aktuell, 29. Oktober 2021.