Pauschale Leistungskürzung für alleinstehende Asylbewerber in Sammelunterkünften?
Die Entscheidung betrifft alleinstehende erwachsene Asylbewerber, die in Sammelunterkünften wohnen und sich seit mindestens 18 Monaten rechtmäßig in Deutschland aufhalten. Ihnen hat der Gesetzgeber ab dem 01.09.2019 einen um 10% geringeren Bedarf an existenzsichernden Leistungen zugeschrieben, indem nicht mehr die Regelbedarfsstufe 1, sondern die in § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG neu geschaffene "Sonderbedarfsstufe" der Regelbedarfsstufe 2 zugrunde gelegt wurde. Davon betroffen war auch ein Asylsuchender aus Sri-Lanka, der 2014 nach Deutschland einreiste und anschließend in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht war. Er teilte sich mit einer Person einen Schlafraum und mit weiteren Personen Küche und Bad. Zwischen ihnen bestand kein Verwandtschaftsverhältnis. Er erhielt zunächst Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 1, ab November 2019 nach der Regelbedarfsstufe 2. Nach erfolglosem Widerspruch hiergegen klagte der Mann beim Sozialgericht. Dieses rief das BVerfG zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG an, soweit die Norm alleinstehende erwachsene Leistungsberechtigte erfasst.
BVerfG: Verstoß gegen Grundrecht auf menschenwürdiges Existenzminimum
Das BVerfG hat § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG gekippt. Durch die Regelung werde das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verletzt. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass Alleinstehende in Sammelunterkünften aufgrund eines gemeinsamen Wirtschaftens relevante Einsparungen erzielen würden und deshalb tatsächlich einen geringeren Bedarf hätten als Alleinstehende in einer eigenen Wohnung. Tragfähige Erkenntnisse dazu lägen nicht vor. Die gesetzgeberische Erwartung, bei Nahrungsmitteln könne gespart werden, etwa indem Lebensmittel oder zumindest der Küchengrundbedarf in größeren Mengen gemeinsam eingekauft und in den Gemeinschaftsküchen gemeinsam genutzt werde, werde nicht mit Tatsachen belegt. Auch die pauschale Annahme, dass in Sammelunterkünften so wie in Paarhaushalten gemeinsam "aus einem Topf" gewirtschaftet werde, trage ohne tatsächliche Grundlagen nicht.
Pauschale 10%-Absenkung unverhältnismäßig - Entsprechende Einsparmöglichkeiten nicht belegt
Zwar könne der Gesetzgeber den Bezug existenzsichernder Leistungen auch grundsätzlich davon abhängig machen, die Bedürftigkeit zu vermeiden oder zu vermindern. So liege § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG die Obliegenheit zugrunde, durch gemeinsames Wirtschaften in einer Sammelunterkunft den Bedarf an existenzsichernden Leistungen des Staates zu senken. Allerdings sei die auf der Obliegenheit beruhende pauschale Absenkung der Leistungen um 10% unverhältnismäßig. Der existenznotwendige Bedarf der Betroffenen sei damit derzeit nicht gedeckt. Die Annahme, eine Obliegenheit, gemeinsam zu wirtschaften, könne tatsächlich erfüllt und dadurch Einsparungen in entsprechender Höhe erzielt werden, sei nicht durch empirische Erkenntnisse belegt. Entsprechende Untersuchungen lägen auch drei Jahre nach Inkrafttreten der Regelung nicht vor. Die Annahme, die Betroffenen bildeten eine "Schicksalsgemeinschaft", genüge nicht.
Keine Kompensation durch SGB XII-Ausnahmeregelung
Das gleiche auch die Regelung in § 27a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB XII nicht aus, wonach der Regelsatz im Einzsonelfall höher festgesetzt werde. Auch dann müsste - anders als hier - durch hinreichend tragfähige Anhaltspunkte belegt sein, dass im Regelfall die Voraussetzungen für den niedrigeren Regelsatz aufgrund von Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften in den Sammelunterkünften vorlägen. Die Regelung zur Sonderbedarfsstufe lasse sich auch nicht damit begründen, dass bei einem Leben in Sammelunterkünften bestimmte Bedarfe zu kürzen seien. Auch sei derzeit nicht sichergestellt, dass es durch eine Kombination der abgesenkten Regelbedarfsstufe 2 und einer Kürzung des Regelsatzes im Einzelfall gemäß § 27a Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB XII nicht zu einem doppelten Abzug aus demselben Grund komme.
Rückwirkend höhere Leistungen bei noch nicht bestandskräftigen Bescheiden
Das BVerfG hat die fortdauernde Anwendung der Norm angeordnet, da das grundrechtlich garantierte Existenzminimum sonst nicht gesichert sei. Für die im Zeitpunkt der Bekanntgabe dieser Entscheidung nicht bestandskräftigen Leistungsbescheide seien die Leistungen ab dem 01.09.2019, dem Tag des Inkrafttretens der hier beanstandeten Regelung, nach Maßgabe der Regelbedarfsstufe 1 zu berechnen. Die bereits bestandskräftigen Leistungsbescheide blieben unberührt, soweit Leistungszeiträume vor Bekanntgabe dieser Entscheidung betroffen seien.