Nichtdurchsetzung von Abschiebungen macht Eilrechtsschutz nicht entbehrlich
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© Michael Kappeler / dpa

Afghanischen Asylsuchenden darf Eilrechtsschutz gegen ihre drohende Abschiebung nicht mit der Begründung versagt werden, nach der Berliner Weisungslage würden Abschiebungen nach Afghanistan zurzeit nicht durchgesetzt. Dies hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschlüssen vom 10.06.2020 entschieden. Die Annahme, durch diese Praxis entfalle Rechtsschutzbedürfnis, verstoße gegen das Gebot effektiven Rechtsschutzes. Denn eine Abschiebung sei dadurch nicht hinreichend sicher ausgeschlossen.

Abschiebungsandrohungen gegen afghanische Staatsangehörige

Die Beschwerdeführer, drei afghanische Staatsangehörige, durchliefen bereits in Schweden erfolglos ein Asylverfahren. Ihre anschließend in Deutschland gestellten Asylanträge lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als unzulässig ab. Zugleich stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorlägen, und drohte die Abschiebung nach Afghanistan an.

VG: Eilrechtsschutz wegen Berliner Weisungslage nicht notwendig

Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer Klage beim Verwaltungsgericht Berlin und stellten zugleich Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Das VG lehnte die Eilanträge als unzulässig ab. Den Beschwerdeführern fehle das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Nach der Berliner Weisungslage und Praxis für ausreisepflichtige Personen aus Afghanistan werde die gesetzlich angeordnete Abschiebung derzeit nicht durchgesetzt. Gerichtlicher Rechtsschutz sei daher unnötig.

BVerfG: Berliner Weisungslage schließt Abschiebung nicht sicher aus

Das BVerfG hat den Verfassungsbeschwerden nun stattgegeben und die Sachen an das VG Berlin zurückverwiesen. Die Annahme des VG, den Beschwerdeführern fehle das Rechtsschutzbedürfnis, sei mit dem verfassungsrechtlichen Gebot effektiven Rechtsschutzes nicht vereinbar. Ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sei ein Vollzug der Abschiebung rechtlich nicht ausgeschlossen. Die Berliner Weisungslage schließe eine Abschiebung auch solcher Personen, die nicht als "Straftäter", "Gefährder" oder "hartnäckige Identitätsverweigerer" eingestuft seien, nicht mit der erforderlichen Zuverlässigkeit aus. Darüber hinaus handele es sich bei den maßgeblichen Verfahrenshinweisen zum Aufenthaltsrecht Berlin  („VAB E Afghanistan 1“, Stand: 19.07.2019) und dem ebenfalls einschlägigen Schreiben der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales an Mitarbeiter von Beratungsstellen, Vereinen und Projekten vom 19.05.2017 lediglich um interne Verwaltungsvorschriften, von denen auch nach dem Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung aus sachlichen Gründen in Einzelfällen abgewichen könnte und die zudem jederzeit geändert werden könnten.

Ohne Eilrechtsschutz bei jeder Änderung der Weisungslage neuer Antrag erforderlich

Eine weitere mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes unvereinbare Verschlechterung der Rechtsposition der Beschwerdeführer ergebe sich daraus, dass sie ohne gerichtlichen Schutz bei jeder Änderung der Weisungslage einen erneuten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung stellen müssten. Zwischenzeitliche, für sie nachteilige Rechtsänderungen gingen dabei zu ihren Lasten.

Begehrter Eilrechtsschutz kann auch Besserstellung bewirken

Ferner weist das BVerfG darauf hin, dass die von den Beschwerdeführern beantragte gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung nicht nur eine Verschlechterung ihrer rechtlichen Situation verhindere, sondern ihre Rechtsstellung auch verbessern könne, etwa wenn über einen Asylzweitantrag zu entscheiden sei (Duldungsfiktion). Entgegen der Auffassung des VG komme es dabei nicht darauf an, dass ein Beschwerdeführer auch bei Ablehnung seines Eilantrages möglicherweise eine Duldung erhalten würde. Denn die Entscheidung über die Erteilung einer solchen Duldung aus dringenden humanitären oder persönlichen Gründen stehe im Ermessen der Ausländerbehörde. Selbst wenn dieses Ermessen aufgrund der Berliner Weisungslage in Verbindung mit einer Selbstbindung der Verwaltung auf Null reduziert sein möge, erfordere die Erteilung der Duldung jedenfalls ein weiteres Tätigwerden des Betroffenen sowie der zuständigen Ausländerbehörde in einem zusätzlichen Verwaltungsverfahren.

Eilantrag bei Änderung der Berliner Weisungslage wohl nicht mehr nachholbar

Schließlich weist das BVerfG noch auf weitere prozessuale Risiken bei Zweitanträgen hin: Folgten Schutzsuchende der Annahme des VG und stellten zunächst keinen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung, könnte dieser Antrag nach einer Änderung der Berliner Weisungslage voraussichtlich nicht mehr nachgeholt werden, weil er einer besonders kurzen Frist von einer Woche unterworfen sei.

BVerfG, Beschluss vom 10.06.2020 - 2 BvR 297/20

Redaktion beck-aktuell, 7. Juli 2020.