BVerfG: Krankenversicherungsdaten dürfen vorläufig weiter ausgewertet werden

Die neu in das SGB V eingefügten Vorschriften zur Nutzung von Krankenversicherungsdaten in pseudonymisierter oder anonymisierter Form für die medizinische Forschung und die Gesundheitsversorgung bleiben vorerst weiter in Kraft. Das Bundesverfassungsgericht hat einen Eilantrag eines Mannes, der an einer seltenen Erbkrankheit leidet und seine Identifizierbarkeit befürchtet, mit Beschluss vom 19.03.2020 nach Vornahme einer Folgenabwägung abgelehnt (Az.: 1 BvQ 1/20).

Krankenversicherungsdaten dürfen für Gesundheitsversorgung und medizinische Forschung genutzt werden

§ 68a Abs. 5 SGB V ermächtigt die gesetzlichen Krankenkassen dazu, versichertenbezogene Daten pseudonymisiert oder, sofern möglich, auch anonymisiert auszuwerten, um den Bedarf nach und mögliche Versorgungseffekte von digitalen Innovationen im Gesundheitsbereich zu evaluieren. Die §§ 303a ff. SGB V sollen die Nutzbarkeit bestimmter Gesundheitsdaten unter anderem für Forschungszwecke verbessern. Sie etablieren zu diesem Zweck ein Datentransparenzverfahren, in dem personenbezogene Daten der gesetzlich Versicherten wie Alter, Geschlecht oder Wohnort sowie bestimmte Gesundheitsdaten an den Spitzenverband Bund der Krankenkassen als Datensammelstelle übermittelt und von diesem anschließend an ein noch einzurichtendes Forschungsdatenzentrum weitergegeben werden. Dieser Vorgang wird von einem Pseudonymisierungsverfahren begleitet, wobei die Pseudonyme kassenübergreifend eindeutig einem bestimmten Versicherten zugeordnet werden. Das Forschungsdatenzentrum stellt den Nutzungsberechtigten auf Antrag die Datensätze grundsätzlich aggregiert und anonymisiert, gegebenenfalls aber auch pseudonymisiert oder in kleinen Fallzahlen zur Verfügung. Die Nutzungsberechtigten dürfen diese Daten unter anderem für die medizinische Forschung sowie für Planung, Analyse und Evaluation der Gesundheitsversorgung, aber auch zur Unterstützung politischer Entscheidungsprozesse und für Aufgaben der Gesundheitsberichterstattung nutzen. Das Gesetz sieht verschiedene Mechanismen zur Einhaltung des Datenschutzes durch die Nutzungsberechtigten vor.

Mann mit Erbkrankheit befürchtet Identifizierbarkeit

Der gesetzlich versicherte Antragsteller leidet an einer seltenen Erbkrankheit und befürchtet, trotz Pseudo- oder Anonymisierung aus den Datensätzen reidentifiziert werden zu können. Weiter bringt er Bedenken bezüglich der IT-Sicherheit der Daten der gesetzlich Versicherten vor. Zudem sei die massenhafte Datenverarbeitung, die alle gesetzlich Versicherten in Deutschland betreffe, unverhältnismäßig. Er beantragte beim BVerfG die vorläufige Außerkraftsetzung der einschlägigen SGB-V-Bestimmungen.

BVerfG: Tiefe Eingriffe ins Persönlichkeitsrecht möglich - Vertiefte Prüfung erst im Hauptsacheverfahren zu leisten

Das BVerfG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach Vornahme einer Folgenabwägung abgelehnt. Eine noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde wäre nach derzeitigem Stand weder offensichtlich unzulässig noch unbegründet, da aufgrund des sensiblen Charakters vieler erfasster Daten und deren flächendeckender Erhebung tiefe Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht mit diesem Vrgang verbunden sein könnten, deren Rechtfertigung durch die vom Gesetzgeber verfolgten Gemeinwohlziele nur unter näherer Prüfung der Ausgestaltung im Einzelnen möglich sei. Dass sich hier offene Fragen stellen, ergebe sich schon aus den im Gesetzgebungsverfahren vorgebrachten Bedenken der angehörten Sachverständigen wie auch der Gesetzgebungsorgane. Ob diese durchgreifen, bedürfe einer vertieften Betrachtung, die erst im Hauptsacheverfahren geleistet werden könne.   

Nachteil bei Weitergeltung wegen flächendeckender Erhebung sensibler Daten erheblich

Im Rahmen der Folgenabwägung überwögen die Nachteile, die einträten, wenn die Regelungen vorläufig außer Kraft gesetzt würden, sich die Regelungen aber später als verfassungsgemäß erwiesen. Ergehe eine einstweilige Anordnung nicht, hätte die noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde aber Erfolg, so würden die Daten des Antragstellers sowie aller weiteren gesetzlich Versicherten in Deutschland zu Unrecht für die gesetzlich vorgesehenen Zwecke genutzt. Darin liege vor allem in Anbetracht des teils sensiblen und in hohem Maße persönlichkeitsrelevanten Charakters der genutzten Daten und der flächendeckenden Erhebung ein erheblicher Grundrechtseingriff.

Aber kein unmittelbarer Nachteil

Ein persönlichkeitsrechtlich relevanter Nachteil trete aber nicht unmittelbar durch den Vollzug der angegriffenen Vorschriften, sondern erst dann ein, wenn trotz Pseudonymisierung oder Anonymisierung durch die datenverarbeitenden Stellen ein Personenbezug zu bestimmten Versicherten hergestellt werde, was das Gesetz durch verschiedene Vorkehrungen gerade verhindern wolle. Auch ein vom Antragsteller befürchteter missbräuchlicher Zugriff Dritter auf diese Daten könne nicht mit hinreichender Sicherheit als unmittelbar bevorstehend angenommen werden. Im Hinblick auf zu Unrecht erhobene und gespeicherte Daten könnten gegenüber den Nutzungsberechtigten zudem Löschungsanordnungen ergehen, sodass der eingetretene Nachteil nicht irreversibel wäre.

Außerkraftsetzung würde Nutzung für medizinische Forschung verhindern

Werde die begehrte einstweilige Anordnung hingegen erlassen, während einer künftigen Verfassungsbeschwerde im Hauptsacheverfahren der Erfolg zu versagen wäre, hätte dies zur Folge, dass im Falle des § 68a Abs. 5 SGB V die Auswertung durch die Krankenkassen und im Falle der §§ 303a ff. SGB V die Übermittlung der genannten Daten an die Datensammelstelle vollständig unterblieben. Die Auswertung der ohnehin bereits bei den Krankenkassen vorhandenen Daten nach § 68a Abs. 5 SGB V wäre zwar grundsätzlich nachholbar, aber die vom Gesetzgeber bezweckte empirische Grundlage für eine Evaluation hinsichtlich digitaler Anwendungen stünde zeitlich erst später bereit, womit auch die Evaluation selbst erschwert würde. Im Falle der §§ 303a ff. SGB V stünden die zu übermittelnden Daten für die nutzungsberechtigten Akteure hingegen überhaupt nicht zentral abrufbar zur Verfügung, sodass sie nicht für wichtige gemeinwohlrelevante Belange wie für die medizinische Forschung genutzt werden könnten.

Kein deutliches Überwiegen der Nachteile bei vorläufiger Weitergeltung

Angesichts dessen überwögen die dem Antragsteller bei Nichtergehen einer einstweiligen Anordnung drohenden Nachteile nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit gegenüber den Nachteilen, die bei Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung trotz späterer Erfolglosigkeit einer noch zu erhebenden Verfassungsbeschwerde einzutreten drohten.

BVerfG, Beschluss vom 19.03.2020 - 1 BvQ 1/20

Redaktion beck-aktuell, 30. April 2020.