BVerfG: Keine Pflicht zur Wiederaufnahme eines Strafverfahrens nach gütlicher Einigung vor dem EGMR

Wird ein auf § 359 Nr. 6 StPO gestützter Antrag auf Wiederaufnahme eines Strafverfahrens abgelehnt, weil vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine gütliche Einigung erzielt wurde, ist dies verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Dies hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 13.02.2019 entschieden. Eine gütliche Einigung beinhalte keine Feststellung eines Konventionsverstoßes und sei dieser auch nicht gleichzustellen, selbst wenn sie unter Verweis auf eine vorangegangene Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland in einem vergleichbaren Fall durch den EGMR angeregt wurde (Az.: 2 BvR 2136/17).

Auf gütliche Einigung vor dem EGMR gestützter Wiederaufnahmeantrag abgelehnt

Der Beschwerdeführer wurde durch amtsgerichtliches Urteil wegen eines Betäubungsmitteldeliktes zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten verurteilt. Das Landgericht verwarf seine Berufung gemäß § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO a. F., nachdem im Hauptverhandlungstermin der Pflichtverteidiger, nicht aber der Beschwerdeführer selbst erschienen war. Wiedereinsetzungsantrag und Revision blieben erfolglos, die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen. Der Beschwerdeführer erhob daraufhin Individualbeschwerde zum EGMR, der das Verfahren durch Entscheidung vom 24.01.2017 aus seinem Register strich, nachdem die Bundesregierung und der Beschwerdeführer vor dem Hintergrund der Feststellung eines Konventionsverstoßes in einem vorangegangenen, vergleichbaren Verfahren (BeckRS 2013, 6875) eine gütliche Einigung gemäß Art. 39 EMRK geschlossen hatten, mit der sich die Bundesregierung zur Zahlung von 7.000 Euro nebst Kosten und Auslagen an den Beschwerdeführer verpflichtete. Der Beschwerdeführer stellte daraufhin einen auch im Beschwerdeverfahren erfolglosen, auf einen Freispruch zielenden Wiederaufnahmeantrag hinsichtlich seines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügte er die Verletzung seines Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz sowie seines Anspruchs auf rechtliches Gehör.

BVerfG: Feststellung eines EMRK-Verstoßes durch EGMR begründet keine verfassungsrechtliche Pflicht zur Wiederaufnahme

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Die Ablehnung der Wiederaufnahme seines Strafverfahrens verletze den Beschwerdeführer nicht in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Was die Wiederaufnahme eines Verfahrens vor deutschen Gerichten nach Feststellung eines Konventionsverstoßes durch die vor dem EGMR angegriffenen Gerichtsentscheidungen anbelange, habe das BVerfG entschieden, dass das Grundgesetz nicht dazu verpflichte, einem EGMR-Urteil, in dem festgestellt werde, dass die Entscheidung eines deutschen Gerichts unter Verletzung der EMRK zustande gekommen sei, eine die Rechtskraft dieser Entscheidung beseitigende Wirkung beizumessen. Das Rechtsstaatsprinzip gebiete es nicht, selbst nach Feststellung einer Konventionsverletzung durch den EGMR die Wiederaufnahme des Verfahrens zu ermöglichen. Auch nach Einführung des § 359 Nr. 6 StPO im Jahr 1998, die ausweislich der Gesetzesbegründung ausdrücklich ohne verfassungsrechtliche Verpflichtung erfolgte, sondern dem Prinzip konventionsfreundlicher Ausgestaltung des innerstaatlichen Rechts Rechnung tragen sollte, habe das BVerfG an dieser Rechtsprechung festgehalten.

Verfassungsrechtlich verankerte Bedeutung des Wiederaufnahmeverfahrens hier nicht verkannt

Gemessen daran sieht das BVerfG keinen Grund, die Ablehnung der Wiederaufnahme im vorliegenden Fall aus verfassungsrechtlicher Sicht zu beanstanden. Indem das Amtsgericht und das Landgericht davon ausgegangen seien, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 359 Nr. 6 StPO nicht erfüllt sind, hätten sie die verfassungsrechtlich verankerte Bedeutung des Wiederaufnahmeverfahrens nicht verkannt. Im Hinblick auf den Grundsatz der Rechtssicherheit sei festzuhalten, dass der Bundesgesetzgeber mit § 359 Nr. 6 StPO einen neuen Wiederaufnahmegrund für strafrechtliche Verfahren in das Strafprozessrecht eingefügt hat. Danach sei die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zugunsten des Verurteilten zulässig, wenn der EGMR eine Verletzung der EMRK oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das deutsche Urteil auf dieser Verletzung beruht.

§ 359 Nr. 6 StPO erfordert Feststellung des EMRK-Verstoßes im Individualbeschwerdeverfahren des Verurteilten

Laut BVerfG ist aber Voraussetzung, dass der EGMR eine Verletzung der EMRK oder ihrer Protokolle festgestellt hat. Aus dem Wortlaut der Norm gehe zwar nicht eindeutig hervor, dass diese Feststellung im konkreten Verfahren des Verurteilten, der die Wiederaufnahme seines Strafverfahrens anstrebe, getroffen worden sein müsse. Indes verdeutliche die Entstehungsgeschichte der Norm, dass nach dem Willen des Gesetzgebers Voraussetzung für ein Wiederaufnahmeverfahren ist, dass der Verurteilte in eigener Person die Feststellung einer Konventionsverletzung durch den EGMR erstritten habe. Denn der Gesetzgeber habe sich bewusst für eine Beschränkung auf Entscheidungen inter partes entschieden. Danach seien die Fachgerichte hier in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass die Feststellung der Konventionswidrigkeit im Individualbeschwerdeverfahren des Beschwerdeführers getroffen worden sein muss.

EGMR-Verfahren befand sich bei gütlicher Einigung noch im Anfangsstadium

Die Fachgerichte seien zu Recht davon ausgegangen, dass es an einer solchen Feststellung im Fall des Beschwerdeführers fehlt, führt das BVerfG weiter aus. Denn wie sich aus den vom Beschwerdeführer vorgelegten Unterlagen ergebe, sei sein Verfahren vor dem EGMR im Zeitpunkt des Abschlusses der gütlichen Einigung erst in einem Stadium gewesen, in dem noch nicht einmal die Zulässigkeit seiner Individualbeschwerde abschließend festgestanden habe. Fest stand allenfalls, dass die Beschwerde weder durch den Einzelrichter noch durch den Ausschuss ohne weitere Prüfung für unzulässig erklärt worden war. Die Zustellung der Beschwerde zur Stellungnahme an die Bundesrepublik Deutschland schließt jedoch nicht aus, dass die zuständige Kammer des Gerichtshofs die Beschwerde zu einem späteren Zeitpunkt, etwa aufgrund der Erkenntnisse infolge der Stellungnahme, für unzulässig oder unbegründet erklärt.

Keine Feststellung eines EMRK-Verstoßes durch Anregung zu gütlicher Einigung und Zahlung von 7.000 Euro

Laut BVerfG liegt eine (konkludente) Feststellung einer Konventionsverletzung auch nicht darin, dass der EGMR die Parteien unter pauschalem Verweis auf seine Rechtsprechung und Praxis beziehungsweise unter konkreter Bezugnahme auf die Rechtssache Neziraj v. Deutschland zu einer gütlichen Einigung angeregt habe. Dasselbe gelte für die Feststellung des EGMR in seiner Entscheidung vom 24.01.2017, dass die Einigung auf dem Respekt für die Menschenrechte basiere. Eine gütliche Einigung nach Art. 39 EMRK eröffne dem beklagten Staat vielmehr die Möglichkeit, die Feststellung einer Konventionsverletzung gerade zu vermeiden. Eine Anerkennung einer Konventionsverletzung durch den beklagten Staat sei dabei nicht erforderlich und erfolge im Regelfall auch nicht. Ebenso wenig nehme der EGMR in der Entscheidung nach Art. 39 Abs. 3 EMRK zu der behaupteten Konventionsverletzung Stellung. Auch die durch den EGMR vorgeschlagene Zahlung von 7.000 Euro an den Beschwerdeführer durch die Bundesrepublik Deutschland habe weder die Anerkennung einer Konventionsverletzung noch die Feststellung einer solchen durch den EGMR beinhaltet. Damit habe es im Fall des Beschwerdeführers an der Feststellung einer Konventionsverletzung im Sinne des § 359 Nr. 6 StPO gefehlt.

Gütliche Einigung und Feststellung eines EMRK-Verstoßes müssen nicht gleich behandelt werden

Das BVerfG sieht auch keine verfassungsrechtliche Verpflichtung, die von dem Beschwerdeführer mit der Bundesrepublik Deutschland getroffene und vom EGMR akzeptierte gütliche Einigung mit der Feststellung einer Konventionsverletzung im Sinne des § 359 Nr. 6 StPO über den Wortlaut und die Entstehungsgeschichte der Norm hinweg gleich zu behandeln. Sei es verfassungsrechtlich selbst im Fall der Feststellung einer Konventionsverletzung durch den EGMR nicht geboten, dem EGMR-Urteil eine die Rechtskraft der Entscheidung des deutschen Gerichts beseitigende Wirkung beizumessen, gelte dies erst recht, wenn es bereits an einer solchen Feststellung fehlt. Dies gelte auch dann, wenn der EGMR die gütliche Einigung, wie hier, vor dem Hintergrund und unter Bezugnahme auf eine bereits erfolgte Feststellung einer Konventionsverletzung durch die Bundesrepublik Deutschland in einem im Wesentlichen gleich gelagerten vorangegangenen Verfahren eines anderen Beschwerdeführers vorgeschlagen hat. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass sich ein Beschwerdeführer auf eine gütliche Einigung im Sinne von Art. 39 EMRK freiwillig einlässt.

Konventionsfreundliche Auslegung gebietet ebenfalls keine Gleichbehandlung

Eine solche Gleichbehandlung hält das BVerfG auch bei konventionsfreundlicher Auslegung des mit § 359 Nr. 6 StPO erfolgten Ausgleichs der widerstreitenden Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips nicht für geboten. Zwar betone der EGMR in seiner neueren Rechtsprechung, dass er in einer im nationalen Recht vorgesehenen Wiederaufnahmemöglichkeit eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens einen geeigneten Weg zur Beseitigung einer - festgestellten - Konventionsverletzung sieht. Dies ändere aber nichts daran, dass die Beseitigung einer solchen Konventionsverletzung grundsätzlich den Vertragsparteien überlassen bleibt, die dieser Pflicht im Rahmen des nach der innerstaatlichen Rechtsordnung Möglichen nachzukommen haben. Art. 41 EMRK, der zugunsten der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung für die Fälle vorsehe, in denen nur eine unvollständige Wiedergutmachung für die Folgen einer Konventionsverletzung geleistet werden könne, trage dem Rechnung.

Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzt

Die angegriffenen Entscheidungen verletzten den Beschwerdeführer auch nicht in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG, so das BVerfG abschließend. Das Landgericht habe den Vortrag des Beschwerdeführers erkennbar gewürdigt, seine Rechtsansicht jedoch nicht geteilt. Darin liege nach den verfassungsrechtlichen Maßstäben keine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör.

BVerfG, Beschluss vom 13.02.2019 - 2 BvR 2136/17

Redaktion beck-aktuell, 1. März 2019.

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