BVerfG: Kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen

Aus der in Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ergibt sich kein Recht darauf, dass ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wird. Dies hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 10.01.2020 entschieden. Es nahm eine Verfassungsbeschwerde der IG Bau und einer Sozialkasse der Baubranche gegen eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, das mehrere Allgemeinverbindlicherklärungen von Sozialkassentarifverträgen für unwirksam erklärt hatte, nicht zur Entscheidung an (Az.: 1 BvR 4/17).

Sozialkassentarifverträge im Baugewerbe für allgemeinverbindlich erklärt

Im Baugewerbe sind Tarifverträge über Sozialkassen des Baugewerbes geschlossen worden. Diese Kassen sind gemeinsame Einrichtungen der Tarifparteien. Sie sollen im Bereich des Urlaubs, der Altersversorgung und der Berufsbildung Leistungen erbringen, die wegen Besonderheiten der Baubranche sonst nicht oder nur eingeschränkt zu bekommen wären. Finanziert wird dies über Beiträge der Arbeitgeber, die im Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) festgelegt sind. Grundsätzlich ist die Beitragspflicht auf solche Arbeitgeber beschränkt, die wegen ihrer Mitgliedschaft in einem tarifschließenden Verband an den VTV gebunden sind. Allerdings wurde der VTV in der Vergangenheit regelmäßig nach § 5 TVG vom Bundesarbeitsministerium im Einvernehmen mit dem zuständigen Ausschuss für allgemeinverbindlich erklärt. Daher wurden auch nicht tarifgebundene Arbeitgeber zu Beiträgen herangezogen.

BAG erklärte Allgemeinverbindlicherklärungen für unwirksam

Im September 2016 entschied das BAG, dass die Allgemeinverbindlicherklärungen der Jahre 2008 und 2010 unwirksam seien. Sie hätten den Voraussetzungen im damals geltenden TVG nicht entsprochen. So habe sich der zuständige Minister oder der jeweilige Staatssekretär nicht mit der Allgemeinverbindlicherklärung befasst. Auch habe nicht festgestellt werden können, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens 50% der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer beschäftigt hatten. Gegen diesen Beschluss des BAG richteten sich die Verfassungsbeschwerden der IG Bau, die einen solchen Tarifvertrag über die Sozialkassen geschlossen hat, und einer Sozialkasse.

BVerfG: Kein Anspruch auf Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen aus Art. 9 Abs. 3 GG

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Die Koalitionsfreiheit der Beschwerdeführenden werde durch den BAG-Beschluss nicht verletzt. Aus Art. 9 Abs. 3 GG ergebe sich für die Beschwerdeführenden kein Anspruch auf Allgemeinverbindlicherklärung des VTV. Zwar schütze die Koalitionsfreiheit das Recht der Tarifparteien, auch Tarifverträge zu schließen, die von vornherein darauf zielten, auch Nichtmitglieder zu verpflichten. Daraus folge aber kein Anspruch darauf, dass diese auch für allgemeinverbindlich erklärt werden müssen. Vielmehr dürfe der Staat seine Normsetzungsbefugnis nicht beliebig außerstaatlichen Stellen überlassen und die Bürger nicht schrankenlos der normsetzenden Gewalt von Akteuren ausliefern, die ihnen gegenüber nicht demokratisch oder mitgliedschaftlich legitimiert seien.

Praktische Ausübung der Koalitionsfreiheit bleibt möglich

Ein Anspruch auf eine Allgemeinverbindlicherklärung folgt laut BVerfG auch nicht aus der Pflicht des Gesetzgebers zu ermöglichen, dass von der Koalitionsfreiheit tatsächlich Gebrauch gemacht werden könne. Art. 9 Abs. 3 GG enthalte insofern kein Gebot, jeder Zielsetzung, die Koalitionen verfolgten, zum praktischen Erfolg zu verhelfen. Das Grundrecht garantiere den Koalitionen vielmehr die tatsächlich realisierbare Chance, durch ihre Tätigkeit die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu wahren und zu fördern. Soweit diese Chance nicht gegeben sei, könne Abhilfe verlangt werden. Ein solcher Fall sei hier aber nicht erkennbar. Die Anforderungen, die das BAG an die Allgemeinverbindlicherklärungen gestellt habe, ließen die Anstrengungen der Koalitionen, ihre Ziele zu erreichen, nicht leerlaufen. Auch beeinträchtige es die Chancen der Koalitionen nicht, wenn gefordert wird, dass im zuständigen Ministerium konkret personell Verantwortung übernommen werden müsse. Die weitere Anforderung einer 50%-Quote gebundener Beschäftigter schränke zwar die Möglichkeiten der Koalitionen ein, ihre Tarifverträge auf Außenseiter zu erstrecken. Doch entfalle damit nicht jede Möglichkeit, die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG in Anspruch zu nehmen.

Weitere Unwirksamkeitserklärungen ebenfalls nicht zu beanstanden

Aus denselben Gründen seien auch die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführenden gegen weitere Entscheidungen des BAG nicht zur Entscheidung angenommen worden, mit denen die Allgemeinverbindlicherklärungen des VTV der Jahre 2012, 2013 und 2014 für unwirksam erklärt worden seien (Az: 1 BvR 593/17, 1 BvR 1104/17 und 1 BvR 1459/17).

BVerfG, Beschluss vom 10.01.2020 - 1 BvR 4/17

Redaktion beck-aktuell, 5. Februar 2020.

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