Schuldenprogramm zur Finanzierung von Corona-Hilfen
Die Verfassungsrichterinnen und -richter hatten im April 2021 die deutsche Beteiligung im Eilverfahren ermöglicht, weil ein Stopp ihrer Ansicht nach wirtschaftlich und politisch viel Schaden angerichtet hätte. Allerdings räumten sie ein, dass die Möglichkeit eines Verfassungsverstoßes durchaus im Raum stand. Das wurde nun im Hauptverfahren geprüft. Das Aufbauprogramm mit dem Namen "Next Generation EU" soll den EU-Staaten helfen, nach der Pandemie wieder auf die Beine zu kommen. Dafür macht die EU-Kommission erstmals im großen Stil Schulden. Es geht um ein Volumen von 750 Milliarden Euro. Berücksichtigt man die Inflation, sind das inzwischen mehr als 800 Milliarden Euro. Einen Teil des Geldes bekommen die Länder als Zuschüsse, die nicht zurückgezahlt werden müssen, den Rest als Darlehen. Ende 2058 sollen die Schulden spätestens beglichen sein.
Kritik vom Bundesrechnungshof
Die größten Summen gehen an besonders hart getroffene Länder wie Italien und Spanien. Deutschland rechnete mit Zuschüssen von fast 26 Milliarden Euro netto. Das Geld soll etwa in Wasserstoff-Forschung, klimafreundliche Mobilität und ein digitaleres Bildungssystem fließen. Wiederum ist Deutschland laut Bundesrechnungshof mit voraussichtlich rund 65 Milliarden Euro größter Nettozahler. Die Behörde hatte von einer "Zäsur für die europäische Finanzarchitektur" gesprochen und vor Risiken für den Bundeshaushalt gewarnt.
Regierung verteidigt Schuldenaufnahme
Die Kläger, darunter ein Bündnis um AfD-Gründer Bernd Lucke, argumentierten ähnlich: Sie befürchten, dass am Ende womöglich Deutschland die Rechnung allein begleichen muss, sollten Staaten ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen. Es drohe über Jahrzehnte ein unkalkulierbarer Schuldensog. Außerdem habe das Programm keine Grundlage in den europäischen Verträgen. Die Bundesregierung hatte die gemeinsame Schuldenaufnahme für den Wiederaufbaufonds in der mündlichen Verhandlung vor einigen Monaten verteidigt. Ein entschlossenes gemeinsames Handeln der Mitgliedstaaten sei in der damaligen Situation - im vom Lockdown geprägten Frühjahr 2020 - notwendig gewesen.
BVerfG sieht keine verfassungsrechtlichen Bedenken
Im Juli 2020 vereinbarten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union zur Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie das temporäre Aufbauinstrument (NGEU). Der zum Aufbauprogramm "Next Generation EU" gefasste Eigenmittelbeschluss des Rates der Europäischen Union vom 14.12.2020 (Eigenmittelbeschluss 2020) ermächtigt die Europäische Kommission, im Namen der Europäischen Union bis 2026 an den Kapitalmärkten Mittel bis zu einem Betrag von 750 Milliarden Euro zu Preisen von 2018 aufzunehmen. Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Eigenmittelbeschluss 2020 mit dem Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz zugestimmt. Dieses Gesetz verletzt laut BVerfG die Beschwerdeführer nicht in ihrem Recht auf demokratische Selbstbestimmung aus Art. 38 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG und Art. 79 Abs. 3 GG, weil der Eigenmittelbeschluss 2020 jedenfalls keine offensichtliche Überschreitung des geltenden Integrationsprogramms der Europäischen Union darstellte und weil er auch die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages nicht beeinträchtigt sei. Einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union habe es nicht bedurft. Die Entscheidung ist mit 6:1 Stimmen ergangen. Der Richter Müller hat ein Sondervotum zu der Entscheidung abgegeben.
Finanzministerium: "Gute Nachricht"
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist aus Sicht des Bundesfinanzministeriums eine gute Nachricht für die wirtschaftliche Erholung in Europa nach der Pandemie. Europa helfe es, wenn Investitionen in Gang gesetzt werden, um die europäische Wirtschaft auf den Wachstumspfad zurückzubringen und schwere Schäden zu beseitigen, sagte der parlamentarische Staatssekretär Forian Toncar (FDP) am Dienstag in Karlsruhe. "Wir sehen uns darin bestätigt, dass der Bundestag und die Bundesregierung verfassungskonform gehandelt haben", sagte Toncar. Er betonte, dass die Beteiligung Deutschlands von Bundestag und Bundesrat mit großen Mehrheiten beschlossen worden sei. Gleichzeitig versicherte er, dass der Aufbaufonds "Next Generation EU" keine Blaupause für zukünftige Maßnahmen sein werde. Das BVerfG hatte in seinem Urteil den Ausnahmecharakter der Maßnahme in der Pandemie hervorgehoben.
Kläger Lucke sieht Risiken für dauerhafte Zahlungsverpflichtungen
Aus Sicht von Kläger Bernd Lucke hat das BVerfG mögliche Folgen seines Urteils nicht ausreichend berücksichtigt. Der einstige AfD-Gründer begrüßte am Dienstag in Karlsruhe, dass der Zweite Senat deutliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Vorgehens der EU geäußert habe. Positiv sei auch, dass das Gericht festgestellt habe, dass es keine allgemeine Verschuldungskompetenz der Europäischen Union gebe, Haushaltsausgaben nicht durch Verschuldung finanziert werden dürften und Schulden nur unter strengen Auflagen im Ausnahmefall erlaubt seien. "Das Problem ist allerdings dabei, dass die Europäische Union typischerweise sehr erfindungsreich dabei ist, solche Vorgaben dann so weich auslegen, dass sie de facto doch eine dauerhafte Verschuldung schafft." Mit Blick auf Risiken für den Bundeshaushalt kritisierte Lucke das Gericht: "Es hat (...) nicht ausreichend gewürdigt, dass diese möglicherweise temporäre Haftungsübernahme für andere Staaten leicht zu einer dauerhaften werden kann, wenn die anderen Staaten dauerhaft nicht bereit sind, ihren Zahlungsverpflichten nachzukommen."