Jugendamtsträger darf mit Verfassungsbeschwerde nicht Rechte des Kindes geltend machen
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Laut Bundesverfassungsgericht kann ein Landkreis als Jugendamtsträger nicht zum Schutz eines Kindes einen Sorgerechtsentzug erreichen und per Verfassungsbeschwerde Rechte des Kindes geltend machen. Eine Prozessstandschaft komme im Verfassungsbeschwerdeverfahren nur ausnahmsweise in Betracht. Hier aber hätte die Möglichkeit bestanden, einen Ergänzungspfleger zu bestellen oder die Rechte des Kindes durch die bestellte Verfahrensbeiständin geltend zu machen.

Lebensgefährte der Kindesmutter wegen Sexualdelikten verurteilt

Der Beschwerdeführer, ein Landkreis und Jugendamtsträger, hielt zum Schutz eines in seinem Zuständigkeitsbereich lebenden Kindes einen Sorgerechtsentzug für erforderlich. Die allein sorgeberechtigte Mutter zog mit ihrer neunjährigen Tochter in den Haushalt ihres Lebensgefährten, der im Jahr zuvor wegen Sexualstraftaten zu Lasten von Kindern zu einer zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt worden war. Nachdem das Jugendamt von diesen Umständen erfahren hatte, regte es familiengerichtliche Maßnahmen zum Schutz des Kindes an. Im Rahmen des familiengerichtlichen Verfahrens entzog das Oberlandesgericht zunächst der Mutter unter anderem das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihre Tochter.

Gericht belässt Sorgerecht bei der Mutter

Auf die Rechtsbeschwerde der Mutter hob der Bundesgerichtshof diese Entscheidung auf und verwies die Sache an das OLG zurück. Nach weiterer Sachverhaltsaufklärung entzog dieses der Mutter das Sorgerecht nicht, sondern gab ihr näher bezeichnete Maßnahmen auf. Unter anderem sollte sie einen Antrag auf Bewilligung von Hilfe zur Erziehung in Form der aufsuchenden systemischen Familienberatung stellen. Dagegen legte der Landkreis Verfassungsbeschwerde ein. Neben einer Verletzung eigener Rechte rügte er insbesondere auch eine Verletzung des Anspruchs des betroffenen Kindes auf Schutz durch den Staat aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 und 2 GG.

BVerfG: Prozessstandschaft im Verfassungsbeschwerdeverfahren nur ausnahmsweise

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Der Beschwerdeführer sei nicht berechtigt, Rechte des Kindes im Wege der Prozessstandschaft geltend zu machen. Es gebe keine ausdrückliche Regelung über die Prozessstandschaft im Verfahren der Verfassungsbeschwerde, sodass sie in der Regel unzulässig sei. Allerdings gebe es Ausnahmen ‒ etwa bei Parteien kraft Amtes ‒ , insbesondere dann, wenn ansonsten die Gefahr bestünde, dass die betroffenen Rechte überhaupt nicht mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden könnten.

Hier keine Ausnahme geboten: Bestellung eines Ergänzungspflegers möglich

Im vorliegenden Fall sei es aber nicht geboten, die Prozessstandschaft des Beschwerdeführers für das betroffene Kind ausnahmsweise zuzulassen. Die Rechte des Kindes könnten hier ohne Prozessstandschaft des Beschwerdeführers im Verfahren der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden. Zum einen könne das Kind durch einen Ergänzungspfleger (§ 1909 Abs. 1 Satz 1 BGB) vertreten werden. Auf Seiten der allein sorgeberechtigten Mutter liege offensichtlich ein Interessenskonflikt vor, sodass die Vertretung des Kindes durch einen Ergänzungspfleger erforderlich, aber auch möglich wäre. Als Rechtsträger des Jugendamts hätte es dem Beschwerdeführer offen gestanden, bei dem zuständigen Familiengericht die Einrichtung einer solchen Ergänzungspflegschaft für das Kind zur Durchführung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens anzuregen.

Auch Verfassungsbeschwerde durch bestellte Verfahrensbeiständin möglich

Zum anderen bestehe die Möglichkeit, die Interessen des Kindes durch eine Verfassungsbeschwerde der im fachgerichtlichen Verfahren bestellten Verfahrensbeiständin auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren geltend zu machen. Dass die Verfahrensbeiständin hier keine Verfassungsbeschwerde erhoben habe, führe nicht zu einer unzureichenden Berücksichtigung der Interessen des betroffenen Kindes, die die Zulassung einer Prozessstandschaft des Beschwerdeführers bedinge oder auch nur gestatte. Gelange die Verfahrensbeiständin nach eigener Prüfung zu dem Ergebnis, dass die Rechte des Kindes im fachgerichtlichen Verfahren nicht verletzt worden seien, lasse sich dies nicht als Verhinderung der Durchsetzung der Rechte des Kindes verstehen.

Vermutung kindeswohlkonformer Entscheidung der Verfahrensbeiständin

Die Situation sei insbesondere nicht mit derjenigen von Eltern vergleichbar, die zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde nicht willens seien. Während Eltern in einer solchen Konstellation die Verfassungsbeschwerde mit dem Ziel des Eingriffs in ihre eigenen Rechte erheben müssten und daher zwingend in einem Interessenkonflikt wären, könne in Bezug auf den Verfahrensbeistand angesichts seiner Aufgabenstellung, sowohl das subjektive Interesse des Kindes (Kindeswille) als auch dessen objektives Interesse (Kindeswohl) zu berücksichtigen, vermutet werden, dass seine Entscheidung gegen die Verfassungsbeschwerde auch tatsächlich auf objektiven, das Kindeswohl berücksichtigenden Erwägungen beruht.

Kein eigenes Recht des Landkreises aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG

Laut BVerfG kann der Beschwerdeführer auch keine eigenen Rechte aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG geltend machen. Das staatliche Wächteramt des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG gewähre bereits kein materielles grundrechtsähnliches Recht. Es sei untrennbar mit dem Anspruch des Kindes auf Schutz durch den Staat verbunden. Das Wächteramt enthalte die zum Anspruch des Kindes auf Schutz spiegelbildliche Pflicht des Staates, diesen Schutz auch zu gewährleisten. Rechte gegenüber dem Staat habe insoweit allein das Kind, dessen Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 und 2 GG durch diesen Anspruch gerade geschützt seien. Ein subjektives Recht der mit dem Wächteramt befassten Behörden könne hieraus jedoch nicht hergeleitet werden.

BVerfG, Beschluss vom 15.12.2020 - 1 BvR 1395/19

Redaktion beck-aktuell, 9. Februar 2021.