PKH-Verfahren kann auch komplexe grundrechtliche Abwägungen enthalten
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© Uli Deck / dpa

Eine Vorabeinschätzung der Erfolgsaussichten im Prozesskostenhilfeverfahren ist auch dann zulässig, wenn sie – wie regelmäßig im Presse- und Äußerungsrecht – eine Abwägung der im Einzelfall widerstreitenden grundrechtlich geschützten Interessen voraussetzt. Das Bundesverfassungsgericht stellt klar, dass in einer solchen Abwägung, auch wenn sie mitunter komplexe Wertungsfragen aufwirft, keine im PKH-Verfahren verbotene "Vorabklärung schwieriger Rechtsfragen" liegt.

Identifizierende Berichterstattung nicht auf schwere Gewalttaten oder "Promis" beschränkt

Weiter weist das BVerfG darauf hin, dass eine identifizierende Berichterstattung über Strafverfahren einschließlich der Umstände von Tat und Täter im Fall einer Verurteilung nicht generell auf schwere Gewalttaten oder prominente Personen beschränkt ist. Vielmehr seien die Umstände des Einzelfalls entscheidend. So könne eine individualisierende Berichterstattung – wie im zugrunde liegenden Ausgangsfall – auch in Bezug auf einfache Körperverletzungstaten zulässig sein.

Presse berichtete über Körperverletzungen mit Foto

Der nicht öffentlich bekannte Beschwerdeführer war 2018 wegen zweier von ihm eingeräumter einfacher Körperverletzungen zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Wegen einer dritten angeklagten Körperverletzungstat, die in den eineinhalbmonatigen Zeitraum zwischen den bereits abgeurteilten Taten fiel, wurde die Strafverfolgung nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt. Über dieses Verfahren und seinen Ausgang berichtete der örtliche Ableger einer großen Tageszeitung auf seiner Internetseite unter der Überschrift "Supermarkt-Chef, Kollegen und Schulleiterin verprügelt – Vorsicht, Student sieht Rot!". Der Artikel war mit einem Foto des Beschwerdeführers aus dem Gerichtsverfahren bebildert, das im Augenbereich unkenntlich gemacht, auf dem er aber möglicherweise für Bekannte erkennbar ist. Der unter der Abbildung stehende Text identifiziert ihn mit seinem Vornamen und Alter. Der Artikel berichtet in zuspitzender Form über die zugrunde liegenden Taten und verschiedene Äußerungen des Beschwerdeführers im Strafverfahren. Dabei wird ihm unter anderem ein "Hang zur Gewalt" und zu anlasslosen "Ausrastern" attestiert.

Zivilgerichte gestanden Presse individualisierende Berichterstattung zu

Das PKH-Gesuch des Beschwerdeführers für ein zivilgerichtliches Vorgehen gegen den verantwortlichen Presseverlag wiesen die Zivilgerichte mangels hinreichender Erfolgsaussicht zurück. Auch nicht schwerwiegende Gewalttaten und deren konkrete Umstände und Täter gehörten je nach Einzelfall zu dem die Öffentlichkeit berechtigterweise interessierenden Zeitgeschehen, über das die Presse auch individualisierend berichten dürfe. Hier begründeten die besondere Begehungsweise und impulsive Aggressivität der Taten ein hinreichendes Interesse an dem Bericht. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Anspruchs auf Rechtsschutzgleichheit. Schwierige, nicht geklärte Rechtsfragen dürften nicht im PKH-Verfahren entschieden werden.

Keine PKH-Versagung bei entscheidungserheblichen schwierigen Rechtsfragen

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Es verweist auf seine ständige Rechtsprechung, nach der das Institut der PKH auch unbemittelten Personen den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht ermöglichen solle. Die Fachgerichte dürften deswegen den Entscheidungsspielraum, der ihnen bei der Vorabwürdigung der Erfolgsaussichten im PKH-Verfahren nach § 114 ZPO zukommt, nicht überspannen. Denn dann würde der Zweck der PKH, einen Gerichtszugang zu gewährleisten, verfehlt. Die Fachgerichte dürften PKH insbesondere dann nicht versagen, wenn die Entscheidung im Klageverfahren von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt.

Äußerungsrecht erfordert oft Abwägung widerstreitender Interessen im Einzelfall

PKH brauche demgegenüber nicht gewährt zu werden, wenn die entscheidungserhebliche Rechtsfrage angesichts der einschlägigen gesetzlichen Regelung oder der durch die Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen nicht in diesem Sinn als "schwierig" erscheint. Das gilt laut BVerfG insbesondere für abwägende Subsumtionsentscheidungen im Einzelfall, obwohl auch sie komplexe Fragen aufwerfen könnten. Selbst wenn die Beurteilung der Erfolgsaussichten eine konkret abwägende Subsumtionsentscheidung erfordert, dürfe eine fachgerichtliche Voreinschätzung daher im PKH-Verfahren Berücksichtigung finden, soweit die generellen Maßstäbe dieser Abwägung hinreichend geklärt sind. Andernfalls wäre PKH in einzelfallaffinen Rechtsbereichen, etwa im regelmäßig durch konkrete Abwägung von Berichterstattungs- und Persönlichkeitsinteressen bestimmten Äußerungsrecht, fast immer zu gewähren. Das sei mit dem Verbot, "schwierige, bislang ungeklärte Rechtsfragen" im PKH-Verfahren zu entscheiden, nicht gemeint.

Rechtschutzgleichheit nicht verletzt

Im zugrunde liegenden Fall geht das BVerfG davon aus, dass die Fachgerichte die aus der Rechtschutzgleichheit folgenden Anforderungen gewahrt haben. Sie hätten ihrer Abschätzung der Erfolgsaussichten zugrunde gelegt, dass eine identifizierende Presseberichterstattung über Strafverfahren und die zugrunde liegenden Taten in zeitlicher Nähe einer Verurteilung nicht generell auf Fälle schwerer Gewaltverbrechen oder öffentlich bekannter Personen beschränkt ist, sondern von den konkreten Umständen des Falles und dem darauf bezogenen öffentlichen Berichterstattungsinteresse abhängt. Dies entspreche dem Stand der – insbesondere auch verfassungsrechtlichen – Rechtsprechung. Die danach gebotene Abwägung habe auch das Gewicht der Straftaten einzubeziehen, aber verstanden als einzelfallbezogener Abwägungsgesichtspunkt, nicht als abstrakt zu klärende Grundsatzfrage.

Konkrete Frage hier allgemeiner Klärung entzogen

Die Einschätzung, ob in Anwendung dieser Maßstäbe ein gerichtliches Vorgehen gegen die individualisierende Berichterstattung hinreichend aussichtsreich war, verweise auf den konkreten Einzelfall, sei durch abwägende Würdigung des Inhalts und der Umstände der Berichterstattung, der Tat und ihrer Bedeutung für die Allgemeinheit zu beantworten und daher von vornherein einer allgemeinen Klärung entzogen. Sie sei auch nicht derart schwierig oder maßstäblich offen, dass sie einer antizipierenden Würdigung im PKH-Verfahren entgegenstünde, meint das BVerfG. Die für die gerichtliche Einschätzung der Erfolgsaussichten maßgebliche Tatsachengrundlage sei zudem in Gestalt des beanstandeten Presseberichts und des zugrunde liegenden Strafurteils aus den Akten ersichtlich gewesen.

BVerfG, Beschluss vom 07.07.2020 - 1 BvR 2447/19

Redaktion beck-aktuell, 24. Juli 2020.