Gewerkschaften müssen gegen Minderheitenschutzregelung bei Tarifkollisionen erst Fachgerichte anrufen

Drei Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes sind mit ihren Verfassungsbeschwerden gegen die neue Regelung zum Minderheitenschutz bei Tarifkollisionen in § 4a Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 TVG gescheitert. Das Bundesverfassungsgericht erachtete die Beschwerden mit Beschluss vom 19.05.2020 wegen Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip bereits für unzulässig. Die Gewerkschaften müssten zunächst die Fachgerichte anrufen.

Neue Schutzregelung bei Tarifkollision nach BVerfG-Urteil

Nach den Vorschriften des Tarifvertragsgesetzes wird im Fall der Kollision mehrerer Tarifverträge in einem Betrieb grundsätzlich der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft verdrängt, die weniger Mitglieder im Betrieb organisiert. Mit Urteil vom 11.07.2017 (BeckRS 2017, 116172) hat der Erste Senat die Kollisionsregelung insoweit für verfassungswidrig gehalten, als Vorkehrungen dagegen fehlten, dass die Belange der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen in einem solchen Fall einseitig vernachlässigt werden. Der Gesetzgeber verabschiedete daraufhin zum 01.01.2019 die neue Regelung des § 4a Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 TVG.

Verletzung der Koalitionsfreiheit durch Neuregelung gerügt

Nach der Neuregelung sind neben dem Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft in einem Betrieb auch die Rechtsnormen des Minderheitstarifvertrags anwendbar, wenn beim Zustandekommen des Mehrheitstarifvertrags die Interessen von Arbeitsnehmergruppen, die von dem Minderheitstarifvertrag erfasst werden, nicht ernsthaft und wirksam berücksichtigt sind. Drei Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes, die sich selbst als Spartengewerkschaften betrachten, halten den Schutz gegenüber größeren Gewerkschaften durch die neue Regelung für nicht weit genug. Sie rügten mit ihren Verfassungsbeschwerden, die Neuregelung verletze insbesondere die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG.

BVerfG: Unmittelbare Betroffenheit zweifelhaft - Verdrängungswirkung abbedungen

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen. Es hat bereits Zweifel, ob die Gewerkschaften ausreichend dargelegt haben, dass sie durch die angegriffene gesetzliche Regelung unmittelbar betroffen sind. Bislang seien weder von ihnen geschlossene Tarifverträge unanwendbar geworden noch wurde ihr gewerkschaftliches Handeln unmöglich. Vielmehr hätten sie die Verdrängungswirkung von § 4a TVG abbedungen.

Verdrängung von Minderheitsgewerkschaften durch Neuregelung auch fraglich

Es sei auch zumindest fraglich, ob die neue Regelung tatsächlich geeignet ist, Gewerkschaften, die in einem Tarifbereich voraussichtlich weniger Mitglieder organisieren als andere, aus dem Tarifgeschehen zu verdrängen. Die angegriffene Regelung in § 4a Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 TVG führe - anders als die vorhergehende - vom BVerfG im Urteil zur Tarifeinheit vom 11.07.2017 zum Teil beanstandete Regelung gerade dazu, dass der Tarifvertrag der Minderheitsgewerkschaft nicht immer und voraussetzungslos verdrängt wird. Das könne nur geschehen, wenn und soweit die Interessen der Arbeitnehmergruppe der Minderheitsgewerkschaft beim Zustandekommen des von der Mehrheitsgewerkschaft abgeschlossenen Tarifvertrags ernsthaft und wirksam berücksichtigt worden sind. Wo es daran fehle, werde ihr Tarifvertrag auch nicht verdrängt.

Zweifel an ausreichender Darlegung einer Verletzung eigener Rechte

Das BVerfG hat ferner Zweifel, ob die Möglichkeit einer Verletzung in eigenen Rechten hinreichend von den Gewerkschaften substantiiert wurden. Die allgemeine Rüge, sie seien in ihrem Recht aus Art. 9 Abs. 3 GG verletzt, weil sie zwingend Interessen von Nicht-Mitgliedern zu berücksichtigen hätten, genüge insofern nicht. Es werde nicht dargelegt, inwieweit tatsächlich ein Zwang bewirkt werde. Wenn sie relevante Interessen nicht ernsthaft und wirksam berücksichtigten, seien nach § 4a Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 TVG lediglich auch die Rechtsnormen des Minderheitstarifvertrages anwendbar. Inwieweit dies dazu zwinge, für andere mit zu verhandeln, erschließe sich nicht. Es sei nicht dargelegt, inwiefern eine solidarische Erwartung, die über die Interessenvertretung der Mitglieder hinausgehe, Gewerkschaften in ihren Rechten aus Art. 9 Abs. 3 GG verletzt.

Gewerkschaften müssen zunächst Fachgerichte anrufen

Laut BVerfG sind die Verfassungsbeschwerden jedenfalls wegen Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip unzulässig. Hier seien die Fachgerichte vorher nicht befasst worden und es liege kein Ausnahmefall vor, der die Pflicht zu ihrer Anrufung ausnahmsweise entfallen lassen würde. Insbesondere sei nicht ersichtlich, dass es von vornherein sinn- und aussichtslos wäre, zunächst den Rechtsweg zu beschreiten. Die Rechtslage unterscheide sich mit der Neuregelung von der Situation, die der BVerfG-Entscheidung zum Tarifeinheitsgesetz zugrunde gelegen habe. Hier sei nicht dargelegt, dass die beschwerdeführenden Gewerkschaften überhaupt keine Tarifverträge schließen und daher auch keine fachgerichtliche Entscheidung über den im Betrieb anwendbaren Tarifvertrag herbeiführen könnten. Sie hätten die Verdrängungswirkung von § 4a TVG vielmehr abbedungen. Verzichteten sie damit aber selbst auf eine Möglichkeit, die Fachgerichte anzurufen, lasse das die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde nicht entfallen.

Fachgerichte müssen Verdrängung von Minderheitstarifverträgen klären

Würden die Fachgerichte angerufen, müssten diese klären, ob beim Zustandekommen des Mehrheitstarifvertrags die gesetzlichen Anforderungen erfüllt worden seien, die zu einer Verdrängung von Tarifverträgen führen könnten. Das wäre jeweils konkret und unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Wertungen des Art. 9 Abs. 3 GG zu klären. Dabei könne sich der Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft gerade nicht auf eine "Richtigkeitsvermutung" zugunsten aller unter seinen Geltungsbereich fallenden Beschäftigten stützen. Vielmehr müssten die Gerichte entscheiden, ob alle insoweit relevanten Interessen berücksichtigt worden sind. Inwiefern die hier angegriffene Neuregelung dann auf praktische Schwierigkeiten stoße, müsse sich zunächst "vor Ort" zeigen, bevor das BVerfG die Frage beantworten könne, ob sie mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

BVerfG, Beschluss vom 19.05.2020 - 1 BvR 672/19

Redaktion beck-aktuell, 2. Juli 2020.