Gesetzgeber muss Menschen mit Behinderung vor Benachteiligung bei Triage schützen
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Der Gesetzgeber muss unverzüglich Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen für den Fall treffen, dass pandemiebedingt eine Triage-Situation eintritt, in der die intensivmedizinischen Ressourcen nicht für alle Behandlungsbedürftigen ausreichen. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, für behinderte Menschen bestehe in einer solchen Situation das Risiko, dass sie wegen ihrer Behinderung benachteiligt werden. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) kündigte an, zügig einen Gesetzentwurf vorzulegen.

Triage

Sollte pandemiebedingt eine Situation eintreten, in der die intensivmedizinischen Ressourcen nicht ausreichen, um alle intensivpflichtigen Patienten und Patientinnen zu versorgen, müssen Ärzte darüber entscheiden, wer behandelt wird und wer nicht (sogenannte Triage). Gesetzliche Vorgaben für die Entscheidung über die Zuteilung nicht ausreichender intensivmedizinischer Kapazitäten gibt es bislang nicht. Es finden jedoch standardisierte Entscheidungshilfen Anwendung, insbesondere die klinisch-ethischen Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Maßgebliches Entscheidungskriterium ist danach die klinische Erfolgsaussicht einer Behandlung. In die Beurteilung der Erfolgsaussichten fließen dabei auch die Faktoren Komorbiditäten und Gebrechlichkeit ein.

Mehrere Menschen mit Behinderung fürchten Benachteiligung

Mehrere schwer, zum Teil schwerstbehinderte, überwiegend auf Assistenz angewiesene Menschen sowie einer mit Vorerkrankungen, befürchteten deshalb, im Fall einer Triage-Situation von einer lebensrettenden medizinischen Behandlung ausgeschlossen zu werden. Sie rügten mit ihrer Verfassungsbeschwerde, dass der Gesetzgeber das Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und auch die Anforderungen aus Artikel 25 der UN-Behindertenrechtskonvention verletze, weil er nichts unternommen habe, um sie im Fall einer Triage wirksam vor einer Benachteiligung zu schützen. Handele der Gesetzgeber nicht, drohe ihnen zudem die Verletzung ihrer Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und ihrer Rechte auf Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG).

BVerfG: Gesetzgeber muss Behinderte vor Benachteiligung schützen

Das BVerfG hat acht der neun verhandelten Verfassungsbeschwerden stattgegeben, eine war wegen ungenügenden Vortrags unzulässig. Aus dem Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ergebe sich ein Auftrag, Menschen wirksam vor einer Benachteiligung wegen der Behinderung zu schützen. Eine Behinderung setzte dabei längerfristige Einschränkungen von Gewicht voraus, geringfügige Beeinträchtigungen genügten nicht. Keine Rolle spiele der Grund der Behinderung, sodass das Grundrecht auch chronisch Kranke schütze, die entsprechend längerfristig und entsprechend gewichtig beeinträchtigt seien. Aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG folge für den Gesetzgeber keine umfassende, auf die gesamte Lebenswirklichkeit behinderter Menschen und ihres Umfelds bezogene Handlungspflicht. Doch könne sich der Schutzauftrag in bestimmten Konstellationen ausgeprägter Schutzbedürftigkeit zu einer konkreten Schutzpflicht verdichten. Zu solchen Konstellationen gehörten die gezielte als Angriff auf die Menschenwürde zu wertende Ausgrenzung oder eine Situation struktureller Ungleichheit. Zudem könne eine Handlungspflicht bestehen, wenn mit einer Benachteiligung wegen Behinderung Gefahren für hochrangige grundrechtlich geschützte Rechtsgüter einhergehen. Das sei insbesondere der Fall, wenn der Schutz des Lebens in Rede steht (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG).

Gesetzgeber muss wegen Benachteiligungsrisikos für Behinderte bei Triage handeln

Das BVerfG sieht den Gesetzgeber aufgrund dieser Vorgaben verpflichtet, wirksame Vorkehrungen gegen eine Benachteiligung behinderter Menschen zu treffen. Der Schutzauftrag verdichte sich hier zu einer Handlungspflicht, weil Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass für die Beschwerdeführenden ein Risiko bestehe, im Fall einer Triage-Entscheidung aufgrund ihrer Behinderung benachteiligt zu werden. Unter anderem hätten mehrere sachkundige Dritte ausgeführt, dass die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen oft sachlich falsch beurteilt werde und eine unbewusste Stereotypisierung das Risiko mit sich bringe, behinderte Menschen bei medizinischen Entscheidungen zu benachteiligen. Die DIVI-Empfehlungen beseitigten dieses Risiko nicht. Die Empfehlungen seien rechtlich nicht verbindlich und auch kein Synonym für den medizinischen Standard im Fachrecht, sondern nur ein Indiz für diesen. Zudem sei nicht ausgeschlossen, dass die Empfehlungen in ihrer derzeitigen Fassung zu einem Einfallstor für eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen werden können. Denn da in den Empfehlungen schwere andere Erkrankungen im Sinn von Komorbiditäten und die Gebrechlichkeit als negative Indikatoren für die Erfolgsaussichten der intensivmedizinischen Behandlung bezeichnet würden, sei nicht ausgeschlossen, dass eine Behinderung pauschal mit Komorbiditäten in Verbindung gebracht oder stereotyp mit schlechten Genesungsaussichten verbunden wird. Auch werde die Erfolgsaussicht der Überlebenswahrscheinlichkeit als für sich genommen zulässiges Kriterium nicht eindeutig nur auf die aktuelle Krankheit bezogen.

Gesetzgeber hat Gestaltungsspielraum

Das BVerfG unterstreicht, dass dem Gesetzgeber für die Regelung der Triage ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zukommt. Dieser habe mehrere Möglichkeiten, dem Risiko der Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Zuteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Ressourcen wirkungsvoll zu begegnen. Dabei habe er die begrenzten personellen und sachlichen Kapazitäten des Gesundheitswesens und die Schutzpflichten für das Leben und die Gesundheit der anderen Patientinnen und Patienten zu berücksichtigen. Daher seien die Sachgesetzlichkeiten der klinischen Praxis, etwa die aus medizinischen Gründen gebotene Geschwindigkeit von Entscheidungsprozessen, ebenso zu achten wie die Letztverantwortung des ärztlichen Personals für die Beurteilung medizinischer Sachverhalte im konkreten Einzelfall, die in deren besonderer Fachkompetenz und klinischer Erfahrung begründet liege.

Gesetzgeber kann Kriterien für Triage vorgeben

Innerhalb dieses Rahmens habe der Gesetzgeber selbst zu entscheiden, ob er Vorgaben zu den Kriterien von Verteilungsentscheidungen macht. Dass aufgrund der Achtung vor der Unantastbarkeit der Menschenwürde Leben nicht gegen Leben abgewogen werden dürfe, stehe einer Regelung von Triage-Kriterien nicht von vornherein entgegen. Der Gesetzgeber könne auch Vorgaben zum Verfahren machen, wie ein Mehraugen-Prinzip bei Auswahlentscheidungen oder für die Dokumentation, oder er könne die Unterstützung vor Ort regeln. Er könne auch spezifische Vorgaben für die Aus- und Weiterbildung in der Medizin und Pflege und insbesondere des intensivmedizinischen Personals machen, um auf die Vermeidung von Benachteiligungen wegen Behinderung in einer Triage-Situation hinzuwirken.

Justizminister kündigt schnellen Gesetzentwurf an

Bundesjustizminister Marco Buschmann hat eine rasche Reaktion der Bundesregierung angekündigt. "Das erste Ziel muss sein, dass es erst gar nicht zu einer Triage kommt. Wenn aber doch, dann bedarf es klarer Regeln, die Menschen mit Handicaps Schutz vor Diskriminierung bieten", schrieb er am Dienstag auf Twitter. Die Bundesregierung werde dazu zügig einen Gesetzentwurf vorlegen. "Das Bundesverfassungsgericht zeigt auf, dass ein Risiko einer Benachteiligung von Menschen mit einer Behinderung in einer Extremsituation wie einer Triage besteht", erklärte Buschmann in einer am Nachmittag veröffentlichten ausführlicheren Stellungnahme. Der Gesetzgeber müsse daher selbst unverzüglich Vorgaben treffen. "Ich begrüße diese klaren Worte des Bundesverfassungsgerichts." Die Bundesregierung werde die verschiedenen gesetzgeberischen Möglichkeiten "schnell und sorgfältig analysieren und zügig dem Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf vorlegen", kündigte Buschmann an. In die Erarbeitung werde sich auch das Justizministerium einbringen. Bei der Ausgestaltung lasse das Verfassungsgericht weiten Gestaltungsspielraum. "Rein prozedurale Regelungen sind ebenso denkbar wie konkrete substanzielle Vorgaben. Sichergestellt werden muss in jedem Fall, dass in einer Triage-Situation niemand aufgrund seiner Behinderung benachteiligt wird."

Ampel einig über möglichst zügige Umsetzung

Gesetzliche Regelungen sollten zügig beschlossen werden, kündigten auch die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Heike Baehrens, und der Rechtspolitiker Johannes Fechner (SPD) am Dienstag an. "Entscheidendes Kriterium muss die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit sein." Denkbar sei dafür eine Regelung im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. "Wir werden dazu noch im Januar Beratungen beginnen." Die rechtspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion, Katrin Helling-Plar, sagte der Deutschen Presse-Agentur: "Als Gesetzgeber müssen wir nun klare Regelungen insbesondere auch zu Verfahrensfragen treffen. Zugleich werden es auch künftig die Ärztinnen und Ärzte sein müssen, die letztendlich die Entscheidungen im konkreten Einzelfall treffen. Wir sollten zu alldem nun umgehend in eine breite und umfassende gesellschaftliche Diskussion eintreten." Grünen-Fraktionsvize Maria Klein-Schmeink kündigte gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland an: "Wir werden gemeinsam mit SPD und FDP beraten, wie dieser Auftrag des Verfassungsgerichts eine Umsetzung finden kann und mit den anderen demokratischen Fraktionen dazu ins Gespräch kommen."

Opposition drängt zur Eile

Die stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Andrea Lindholz (CSU), verlangte schnelle Rechtssicherheit für Ärzte, auch mit Blick auf eine drohende Überlastung der Krankenhäuser durch die Omikron-Variante des Coronavirus. "Die vom Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss aufgeworfenen Fragen könnten deshalb schon bald akut werden. Aus diesem Grund sollte aus meiner Sicht im Januar ein entsprechendes Gesetz vom Bundestag beraten und verabschiedet werden." Der rechtspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Günter Krings (CDU), sagte der Rheinischen Post: "Als Gesetzgeber sind wir gut beraten, uns auf die Regelung eines transparenten und rechtssicheren Verfahrens zu konzentrieren und darüber hinaus nur äußere Grenzen für diskriminierungsfreie Entscheidungen zu setzen. Die konkrete Triage-Entscheidung selbst können wir als Gesetzgeber nicht vorwegnehmen." Linksfraktionschef Dietmar Bartsch sprach von einem klaren Handlungsauftrag an die Regierung. "Zwei Jahre Unterlassen beendet Karlsruhe heute", sagte er der dpa. "Bundesregierung und Bundestag müssen in der kommenden Woche in die Beratungen mit Experten einsteigen, um den Anforderungen Karlsruhes gerecht zu werden. Weiteres Zeitspiel darf es nicht geben." Der Gesetzgeber solle sich vor allem für eine Vermeidung von Triage-Situationen einsetzen, sagte AfD-Fraktionsvize Beatrix von Storch der dpa. Der Bundestag könne aber ethisch fundierte Leitlinien festlegen, dass jedes Leben denselben Stellenwert besitze. "Behinderte und nicht behinderte Menschen müssen ebenso gleich behandelt werden wie geimpfte und ungeimpfte."

Klägerin Poser zufrieden mit Urteil

Vorurteile aufgrund der Behinderung oder die vom Gericht genannte unbewusste Stereotypisierung erlebten Betroffene regelmäßig, machte eine der Klägerinnen, Nancy Poser, deutlich. "Ich hoffe, dass das jetzt ein Ende hat." Die 42-jährige Amtsrichterin aus Trier bezeichnete die Entscheidung als "immense Erleichterung" und betonte die Deutlichkeit: "Der Gesetzgeber muss uns schützen, und das hat er nicht getan." Es gehe ihr und den acht weiteren Klägerinnen und Klägern nicht darum, dass sie - wie alle anderen - "Opfer der Triage" werden könnten - aber eben nicht wegen ihrer Behinderung. Wichtig sei nun, dass die Betroffenen und ihre Verbände in die Diskussion eingebunden würden. Sozialverbände, Kirchen, Behindertenbeauftragte begrüßten den Beschluss gleichermaßen. Viele sehen darin ein wichtiges Signal, das weit über die Corona-Pandemie hinausreicht. "Jetzt kann sich der Bundestag nicht mehr drücken", sagte Patientenschützer Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz. Bislang habe er Entscheidungen zur Priorisierung im Gesundheitssystem delegiert, etwa an Fachverbände. Zugleich räumte der Stiftungsvorstand ein, die nun zu treffenden Entscheidungen seien für die Abgeordneten sicher keine einfachen.

BVerfG, Beschluss vom 16.12.2021 - 1 BvR 1541/20

Redaktion beck-aktuell, 3. Januar 2022 (ergänzt durch Material der dpa).