Gesetzgeber durfte Sozialkassenverfahren im Baugewerbe rückwirkend "reparieren"

Der Gesetzgeber durfte das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe rückwirkend "reparieren", nachdem das Bundesarbeitsgericht mehrere Allgemeinverbindlicherklärungen des einschlägigen Tarifvertrags für unwirksam erklärt hatte. Dies hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Die echte Rückwirkung sei hier verfassungsrechtlich gerechtfertigt, denn die betroffenen Unternehmen hätten nicht darauf vertrauen können, keine Beiträge zu den Sozialkassen leisten zu müssen.

Für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag sah Pflichtbeiträge zu Sozialkassen im Baugewerbe vor

Die Tarifverträge zu Berufsbildung, Altersversorgung sowie Urlaub zwischen den Arbeitgeberverbänden Zentralverband des Deutschen Baugewerbes und Hauptverband der Deutschen Bauindustrie und der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) sehen speziell für die Baubranche zusätzliche Leistungen für die Beschäftigten vor. Sie werden von den Sozialkassen des Baugewerbes erbracht, die durch Pflichtbeiträge der Arbeitgeber finanziert werden. Der maßgebliche Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) wurde in der Vergangenheit regelmäßig gemäß § 5 des Tarifvertragsgesetzes vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales für allgemeinverbindlich erklärt. Damit sollte er nicht nur für Angehörige der tarifschließenden Verbände, sondern für alle, die in den Geltungsbereich der Tarifverträge fallen, gelten. Deshalb leisteten jahrelang auch nicht verbandsangehörige Unternehmen als sogenannte "Außenseiter" Beiträge zu den Sozialkassen.

BAG erklärte Allgemeinverbindlicherklärungen für unwirksam

2016 und 2017 erklärte das Bundesarbeitsgericht die Allgemeinverbindlicherklärungen des VTV aus den Jahren 2008, 2010, 2012, 2013 und 2014 für unwirksam. Die dagegen gerichteten Verfassungsbeschwerden nahm das das BVerfG nicht zur Entscheidung an. Im Anschluss an die Entscheidungen des BAG stellten sich zahlreiche nicht verbandsangehörige Unternehmen auf den Standpunkt, für die betroffenen Zeiträume habe keine Verpflichtung zur Leistung von Sozialkassenbeiträgen bestanden.

Gesetzgeber stellt vor BAG-Beschlüssen geltende Rechtslage rückwirkend wieder her

Der Gesetzgeber reagierte darauf mit dem Gesetz zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (SokaSiG). Er wollte eine Rechtsgrundlage dafür schaffen, noch ausstehende Sozialkassenbeiträge einzuziehen und bereits erhaltene Beiträge nicht zurückzahlen zu müssen. Das Gesetz trat am 25.05.2017 in Kraft und ordnet für Zeiträume ab 2006 die Sozialkassentarifverträge nun kraft Gesetzes verbindlich an. In Bezug genommen sind sämtliche Bestimmungen des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe einschließlich der Beitragspflicht.

Unternehmen rügten unzulässige echte Rückwirkung

Die beschwerdeführenden Unternehmen legten dagegen Verfassungsbeschwerde ein und machten geltend, dass die Regelungen des SokaSiG die Grundrechte auf unternehmerische Freiheit aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG, die Koalitionsfreiheit sowie das Recht auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzten. Das Gesetz entfalte eine verfassungsrechtlich unzulässige echte Rückwirkung. Ein anerkannter Ausnahmefall, in dem das zu rechtfertigen wäre, liege nicht vor.

BVerfG: Zwar echte Rückwirkung, aber ausnahmsweise gerechtfertigt

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen. Ein Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot liege nicht vor. Zwar ordne das Sozialkassensicherungsgesetz eine echte Rückwirkung an, weil es Arbeitgeber, die nicht kraft Verbandsmitgliedschaft tarifgebunden seien, mit Beitragspflichten für zurückliegende Zeiträume belastet. Diese grundsätzlich unzulässige Rückwirkung sei aber ausnahmsweise verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Denn den Allgemeinverbindlicherklärungen, die das Gesetz ersetze, sei vor den BAG-Entscheidungen der Rechtsschein der Wirksamkeit zugekommen. Dieser wirke nicht nur zugunsten derjenigen, die eine Norm binde, sondern hier auch zu ihren Lasten. Auch eine ungewisse, sich später als richtig herausstellende Ansicht, eine Norm sei ungültig, entbinde nicht davon, zu berücksichtigen, dass die angewandte Norm weiterhin gültig sein könne. Daher hätten die Betroffenen nicht darauf vertrauen können, dass die Allgemeinverbindlicherklärungen unwirksam sind und sie keine Beiträge zu den Sozialkassen des Baugewerbes leisten müssten.

Rückwirkende "Reparaturgesetzgebung" verhältnismäßig

Der Gesetzgeber habe folglich rückwirkend eine "Reparaturgesetzgebung" in Kraft setzen können, deren Belastungen dem entsprächen, was nach Maßgabe des korrigierten Rechts ohnehin als geltend habe unterstellt werden müssen. Den Grundrechtsberechtigten werde damit durch die Rückwirkung nichts zugemutet, womit sie nicht ohnehin schon zu rechnen gehabt hätten. Insoweit hätten die Verfassungsbeschwerden nicht aufgezeigt, dass mit dem angegriffenen Gesetz neue und eigenständige Belastungen einhergingen. Das Gesetz verstoße auch nicht gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Insbesondere bestünden keine verfassungsrechtlich durchgreifenden Bedenken dagegen, dass der Gesetzgeber von der Erforderlichkeit und Zumutbarkeit des Sozialkassensicherungsgesetzes ausgegangen ist. Ihm komme dazu ein weiter Einschätzungs- und Prognosespielraum zu, der hier nicht überschritten worden sei.

Koalitionsfreiheit und Gleichheitssatz ebenfalls nicht verletzt

Auch die Rügen einer Verletzung der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) sowie des Rechts auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG griffen nicht durch, wie das BVerfG abschließend festhielt. Die Geltung des Gesetzes nur für die Baubranche erkläre sich schon daraus, dass nur die Allgemeinverbindlichkeit dieser tarifvertraglichen Regelungen für unwirksam erklärt worden war. Zwischenzeitlich habe der Gesetzgeber die Allgemeinverbindlichkeit im Übrigen auch für die anderen Branchen mit dem Gesetz zur Sicherung der tarifvertraglichen Sozialkassenverfahren vom 01.09.2017 ("SokaSiG II") geregelt.

BVerfG, Beschluss vom 11.08.2020 - 1 BvR 2654/17

Redaktion beck-aktuell, 17. September 2020.

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