Gegenseite in einstweiligen Verfügungsverfahren grundsätzlich anzuhören
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Einstweilige Verfügungen (hier in einer Pressesache) dürfen grundsätzlich nicht ohne Anhörung der Gegenseite erlassen werden. Dies betont abermals das Bundesverfassungsgericht und hat einer Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des Gebots der prozessualen Waffengleichheit stattgegeben. Dabei rügt es scharf, dass der Pressesenat des Oberlandesgerichts Hamburg erneut die verfassungsrechtlichen Anforderungen an das gerichtliche Verfahren bei einstweiligen Anordnungen missachtet habe.

Presserechtliche Unterlassungsverfügung ohne vorherige Anhörung erlassen

Spiegel Online veröffentlichte unter dem Titel "Kritik an Kreuzfahrtreedereien: ´Gesellschaftlich nicht mehr vertretbar`" ein Interview, in dem unter anderem die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens erwähnt wurde. Nach erfolgloser Abmahnung des Verlags wegen dieser Berichterstattung stellte sie Antragstellerin beim Landgericht einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Unterlassungsverfügung. Der begehrte Unterlassungstenor entsprach der zuvor außergerichtlich geforderten Unterlassungserklärung. Nachdem das Gericht rechtliche Bedenken mitgeteilt hatte, formulierte die Antragstellerin ihren Antrag um und ergänzte zwei Hilfsanträge. Das LG wies den Antrag dennoch zurück. Im Verfahren der sofortigen Beschwerde nahm die Antragstellerin nach gerichtlichem Hinweis den Haupt- und einen der Hilfsanträge zurück. Anschließend erließ das OLG "der Dringlichkeit wegen ohne mündliche Verhandlung" eine einstweilige Unterlassungsverfügung gegen Spiegel Online. Der Verlag war zuvor nicht angehört worden. Mit der Verfassungsbeschwerde rügte der Verlag eine Verletzung der prozessualen Waffengleichheit.

Das BVerfG ist verärgert

Das BVerfG moniert einen offenkundigen Verstoß des OLG gegen das Gebot der prozessualen Waffengleichheit. Es ist dabei sichtlich verärgert über den wiederholten Verstoß der Fachgerichte gegen dieses Gebot und sieht sich veranlasst, auf die rechtliche Bindungswirkung der BVerfG-Entscheidungen hinzuweisen. Es legt in seinem Beschluss erneut die Anforderungen des Gebots der Waffengleichheit an das gerichtliche Verfahren bei einstweiligen Anordnungen dar und betont, dass der Gegenseite grundsätzlich vor einer Entscheidung Gehör und damit die Gelegenheit zu gewähren sei, auf eine bevorstehende gerichtliche Entscheidung Einfluss zu nehmen. Entbehrlich sei eine vorherige Anhörung nur in Ausnahmefällen. Eine einstweilige Verfügung komme grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Gegenseite die Möglichkeit hatte, auf das mit dem Antrag und weiteren an das Gericht gerichteten Schriftsätzen geltend gemachte Vorbringen zu erwidern.

Vorprozessuale Äußerungsmöglichkeit auf Abmahnung kann bei Kongruenz genügen

Dabei könne die Möglichkeit zur Erwiderung auf eine Abmahnung ausreichen. Voraussetzung sei, dass der Verfügungsantrag im Anschluss an die Abmahnung unverzüglich nach Ablauf einer angemessenen Frist für die begehrte Unterlassungserklärung bei Gericht eingereicht wird, die abgemahnte Äußerung sowie die Begründung für die begehrte Unterlassung mit dem bei Gericht geltend gemachten Unterlassungsbegehren identisch sind und der Antragsteller ein etwaiges Zurückweisungsschreiben des Antragsgegners zusammen mit seiner Antragsschrift bei Gericht eingereicht hat. Demgegenüber müsse dem Antragsteller Gehör gewährt werden, wenn er nicht in der gehörigen Form abgemahnt wurde oder der Antrag vor Gericht in anderer Weise als in der Abmahnung oder mit ergänzendem Vortrag begründet wird. Gehör sei insbesondere auch dann zu gewähren, wenn das Gericht dem Antragsteller Hinweise nach § 139 ZPO erteilt, von denen die Gegenseite sonst nicht oder erst nach Erlass einer für sie nachteiligen Entscheidung erfährt.

Abmahnung und Verfügungsantrag hier inkongruent - gerichtliche Hinweise nicht mitgeteilt

Im vorliegenden Fall habe die Reederei Spiegel Online zwar vorprozessual abgemahnt. Der Verfügungsantrag, dem der Pressesenat stattgegeben habe, habe jedoch nicht mehr der außerprozessualen Abmahnung entsprochen. Er sei wesentlich verändert worden. Hier seien mehrere gerichtliche Hinweise an die Antragstellerin ergangen, infolge derer sie ihre Anträge umgestellt, ergänzt und teilweise zurückgenommen habe. Während die Antragstellerin somit mehrfach und flexibel habe nachsteuern können, um ein für sie positives Ergebnis des Verfahrens zu erreichen, habe Spiegel Online keinerlei Möglichkeit gehabt, auf die veränderte Sach- und Streitlage zu reagieren. Der Verlag habe bis zur Zustellung der Entscheidung des Pressesenats nicht gewusst, dass gegen ihn ein Verfahren geführt wurde. Dies verletze die prozessuale Waffengleichheit. Spätestens das OLG hätte die den Verlag vor dem Erlass seines Beschlusses über die zuvor an die Antragstellerin ergangenen Hinweise in Kenntnis setzen und ihr Gelegenheit zur Stellungnahme zu den veränderten Anträgen geben müssen.

BVerfG, Beschluss vom 01.12.2021 - 1 BvR 2708/19

Redaktion beck-aktuell, 11. Februar 2022.