BVerfG fasst Anforderungen an Strafbarkeit ehrverletzender Äußerungen zusammen
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Wann unterfallen herabsetzende, beschimpfende Äußerungen noch der Meinungsfreiheit, wann sind sie als Beleidigung strafbar? Das Bundesverfassungsgericht hat vier Verfassungsbeschwerden zum Anlass genommen, seine Rechtsprechung zum Spannungsverhältnis von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht bei ehrverletzenden Äußerungen klarstellend zusammenzufassen. In einem Fall war der nordrhein-westfälische Finanzminister als "rote Null" bezeichnet worden.

BVerfG: Grundsätzlich Abwägung zwischen persönlicher Ehre und Meinungsfreiheit erforderlich

Das BVerfG bekräftigt, dass die Beurteilung, ob eine ehrbeeinträchtigende Äußerung rechtswidrig und unter den Voraussetzungen der §§ 185, 193 StGB strafbar sei, in aller Regel eine Abwägung zwischen persönlicher Ehre und Meinungsfreiheit erfordere. Dabei sei eine Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen einer Äußerung und der Situation erforderlich, in der die Äußerung falle. Eine strafbare Beleidigung liege nur dann vor, wenn das Gewicht der persönlichen Ehre in der konkreten Situation die Meinungsfreiheit des Äußernden überwiegt.

Abwägungskriterien: Ehrschmälernder Gehalt der Äußerung

Das BVerfG fasst wesentliche Kriterien zusammen, die bei dieser Abwägung von Bedeutung sein könnten. Erheblich sei zunächst der konkrete ehrschmälernde Gehalt der Äußerung. Dieser hänge insbesondere davon ab, ob und inwieweit die Äußerung allen Menschen gemeine, grundlegende Achtungsansprüche betreffe oder ob sie eher das jeweils unterschiedliche soziale Ansehen des Betroffenen schmälere. Auch sei das Gewicht der Meinungsfreiheit umso höher, je mehr die Äußerung darauf ziele, einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, und umso geringer, je mehr es hiervon unabhängig lediglich um die emotionalisierende Verbreitung von Stimmungen gegen einzelne Personen gehe.

Privatsphäre oder öffentliches Wirken betroffenen?

Da die Meinungsfreiheit insbesondere Machtkritik schützen solle, sei in die Abwägung einzustellen, ob die Privatsphäre des Betroffenen oder sein öffentliches Wirken Gegenstand der Äußerung ist. Zu unterscheiden sei auch zwischen Politikern, die bewusst in die Öffentlichkeit träten, und solchen, denen als staatliche Amtswalter ohne ihr besonderes Zutun eine Aufgabe mit Bürgerkontakt übertragen worden sei. Der Gesichtspunkt der Machtkritik erlaube aber nicht jede auch ins Persönliche gehende Beschimpfung von Amtsträgern oder Politikern. Denn die Verfassung setze gegenüber einer auf die Person abzielenden, insbesondere öffentlichen Verächtlichmachung oder Hetze allen Personen gegenüber äußerungsrechtliche Grenzen.

Spontane oder überlegte Äußerung? - Wirkung und Verbreitung

Weiter könne erheblich sein, ob die Äußerung unvermittelt in einer hitzigen Situation oder mit längerem Vorbedacht gefallen ist. Vor mündlichen Äußerungen müsse nicht jedes Wort auf die Waagschale gelegt werden. Denn dies würde die freie Meinungsäußerung erheblich behindern. Zudem sei zu berücksichtigen, ob und inwieweit ein konkreter und nachvollziehbarer Anlass für die Äußerung bestand und welche konkrete Verbreitung und Wirkung sie entfaltet. Erfolge die Äußerung nur mündlich und gegenüber einem kleinen Kreis, sei die damit verbundene Beeinträchtigung der persönlichen Ehre geringfügiger und flüchtiger, als sie bei Äußerungen in "sozialen Netzwerken" sein könne.

Abwägungsverzicht nur bei Schmähkritik, Formalbeleidigung und Verletzung der Menschenwürde

Das BVerfG unterstreicht, dass eine Abwägung nur in besonderen Ausnahmefällen und nur unter engen Voraussetzungen entbehrlich sein könne, und zwar in Fällen einer Schmähkritik, einer Formalbeleidigung oder einer Verletzung der Menschenwürde. Es betont, dass die Fachgerichte deren Bejahung klar kenntlich machen und in gehaltvoller Weise begründen müssten. Diese Begründung dürfe sich nicht in der bloßen Behauptung erschöpfen, ihre Voraussetzungen lägen vor. Vielmehr seien die maßgebenden Gründe unter Auseinandersetzung mit objektiv feststellbaren Umständen des Falles nachvollziehbar darzulegen.

Voraussetzungen einer Schmähung

Eine Schmähung liege nur dann vor, wenn eine Äußerung keinen irgendwie nachvollziehbaren Bezug mehr zu einer sachlichen Auseinandersetzung hat und es bei ihr allein um das grundlose Verächtlichmachen der betroffenen Person als solcher geht. Es gehe um Fälle, in denen eine vorherige Auseinandersetzung erkennbar nur äußerlich zum Anlass genommen wird, um über andere Personen herzuziehen oder sie niederzumachen, etwa im Rahmen einer "Privatfehde". Ferner fielen darunter Wut- und Hassäußerungen im Internet, die keinerlei nachvollziehbaren Bezug zu einer Sachkritik hätten. Davon abzugrenzen seien Fälle, in denen die Äußerung, auch wenn sie gravierend ehrverletzend und damit unsachlich sei, letztlich (überschießendes) Mittel zum Zweck der Kritik oder Ausdruck der Empörung über bestimmte Vorkommnisse sei und damit nicht allein der Verächtlichmachung von Personen diene.

Voraussetzungen einer Formalbeleidigung

Auch die Formalbeleidigung sei an strenge Voraussetzungen gebunden. Eine solche könne etwa vorliegen, wenn mit Vorbedacht und nicht nur in der Hitze einer Auseinandersetzung besonders krasse, aus sich heraus herabwürdigende Schimpfwörter - etwa aus der Fäkalsprache - verwendet werden. Maßgebliches Kriterium sei hier die kontextunabhängig gesellschaftlich absolut missbilligte und tabuisierte Begrifflichkeit, die die Betroffenen insgesamt verächtlich mache, und damit die spezifische Form dieser Äußerung.

Voraussetzungen für Verletzung der Menschenwürde

Die Meinungsfreiheit müsse zudem stets zurücktreten, wenn eine Äußerung die Menschenwürde eines anderen verletzt. Dies komme aber nur in Betracht, wenn sich die Äußerung nicht lediglich gegen einzelne Persönlichkeitsrechte richte, sondern einer konkreten Person den ihre menschliche Würde ausmachenden Kern der Persönlichkeit abspreche.

Kein Vorrang der Meinungsfreiheit bei Fehlen eines Ausnahmefalls

Das BVerfG stellt außerdem klar, dass die Ablehnung eines solchen Sonderfalls, insbesondere das Nichtvorliegen einer Schmähung, das Ergebnis der Abwägung nicht präjudiziere. Eine Vorfestlegung ergebe sich nicht aus der Vermutung zugunsten der freien Rede, die keinen generellen Vorrang der Meinungsfreiheit gegenüber dem Persönlichkeitsschutz begründe. Aus ihr folge aber, dass Meinungsäußerungen, die die Ehre anderer beeinträchtigten, im Normalfall nur nach Maßgabe einer Abwägung sanktioniert werden können.

Amtsträger-Verhalten durfte als hinterhältig, amtsmissbräuchlich und asozial bezeichnet werden

Unter Anwendung dieser Maßstäbe hat das BVerfG zwei Verfassungsbeschwerden stattgegeben. In dem einen Fall (Az.: 1 BvR 362/18) hatte der Beschwerdeführer, ein Rechtsanwalt, nach Durchführung eines Erlaubnisverfahrens für einen Tierschutzvereins eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den zuständigen Abteilungsleiter eingelegt. Er kritisierte zunächst die Bearbeitungszeit und -weise und führte dann zu den Verfahrenskosten des Vereins aus, diese habe die Behörde zwar bereits formell anerkannt, es scheine aber so, als ob der zuständige Abteilungsleiter durch immer wieder neue Vorgaben letztlich die Kosten nicht erstatten möchte. Weiter hieß es, dessen Verhalten "sehen wir mittlerweile nur noch als offenbar persönlich bösartig, hinterhältig, amtsmissbräuchlich und insgesamt asozial uns gegenüber an". Das BVerfG beanstandete die Verurteilung wegen Beleidigung als verfassungswidrig. Es handele es sich um eine persönlich formulierte Ehrkränkung in Anknüpfung und unter Bezug auf eine fortdauernde Auseinandersetzung mit einem sachlichen Kern, sodass eine Abwägung erforderlich gewesen wäre. Daran habe es aber gefehlt.

NRW-Finanzminister durfte als "rote Null" bezeichnet werden

Auch in einem zweiten Fall (Az.: 1 BvR 1094/19)  beanstandete das BVerfG die Verurteilung wegen einer Beleidigung. Dort hatte der Beschwerdeführer im Rahmen eines Steuerverfahrens ein Schreiben an die Finanzbehörden gerichtet, in dem es hauptsächlich um die Frage der Absetzbarkeit von Prozesskosten ging. Am Ende schrieb er dann, weitere Dienstaufsichtsbeschwerden jetzt zu erheben, dürfte sinnlos sein: "Solange in Düsseldorf eine rote Null als Genosse Finanzministerdarsteller dilettiert, werden seitens des Fiskus die Grundrechte und Rechte der Bürger bestenfalls als unverbindliche Empfehlungen, normalerweise aber als Redaktionsirrtum des Gesetzgebers behandelt." Die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Beleidigung sei verfassungswidrig gewesen. Die angegriffenen Entscheidungen seien nicht von einer verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Abwägung getragen. Sie ließen keine hinreichende Auseinandersetzung mit der konkreten Situation, in der die Äußerung gefallen sei, erkennen und zeigten nicht auf, weshalb das Interesse an einem Schutz des Persönlichkeitsrechts des damaligen nordrhein-westfälischen Finanzministers Norbert Walter-Borjans die erheblichen für die Zulässigkeit der Äußerung sprechenden Gesichtspunkte überwiege.

Richter dürfen nicht als "asoziale Justizverbrecher" und "Provinzverbrecher" bezeichnet werden

In zwei weiteren Fällen bestätigte das BVerfG Verurteilungen wegen Beleidigungen. In dem einen Fall (Az.: 1 BvR 2397/19) hatte der Beschwerdeführer, der sich von seiner Partnerin getrennt und zahlreiche Umgangsstreitverfahren geführt hatte, in seinem Internetblog unter anderem verfahrensbeteiligte Richter namentlich genannt, Fotos von ihnen ins Netz gestellt und sie mehrfach als "asoziale Justizverbrecher", "Provinzverbrecher" und "Kindesentfremder" bezeichnet, die Drahtzieher einer Vertuschung von Verbrechen im Amt seien. Laut BVerfG lag zwar noch keine Schmähkritik vor, im Rahmen der Abwägung überwiege aber deutlich das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen. Maßgeblich sei die hartnäckige und anprangernde Form der Äußerungen, die die berufliche Integrität der betroffenen Richter grundsätzlich infrage stellten und gegenüber einer unbestimmten Vielzahl von Personen in einem der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglichen Internetblog verbreitet worden seien.

Rechtsamtsleiterin als geisteskrank bezeichnet - Beleidigung bestätigt

Im dem letzten Fall (Az.: 1 BvR 2459/19) bestätigte das BVerfG die Verurteilung wegen Beleidigung ebenfalls. Der Beschwerdeführer hatte mit einer Stadtbibliothek gestritten und in der Klageschrift geäußert, dass er sich unter Berücksichtigung, dass die Leiterin des Rechtsamtes involviert sei, "eine in stabiler und persönlichkeitsgebundener Bereitschaft zur Begehung von erheblichen Straftaten befindlichen Persönlichkeit, deren geistig seelische Absonderlichkeiten und ein Gutachten zu deren Geisteskrankheit Gegenstand von gerichtlichen Auseinandersetzungen sind", vorbehalte, "ein Ordnungsgeld in angemessener Höhe zu beantragen". Vorangegangen war eine Strafanzeige, die die Leiterin des Rechtsamtes gegen den Beschwerdeführer in einer anderen Angelegenheit gestellt hatte. Die Abwägung des Landgerichts sei nicht zu beanstanden. Es habe maßgeblich auf den erheblich ehrschmälernden Gehalt der Äußerung und den nur schwach ausgeprägten Sachbezug abstellen dürfen.

BVerfG, Beschluss vom 19.05.2020 - 1 BvR 2459/19

Redaktion beck-aktuell, 19. Juni 2020.