Fachgerichte müssen über Rehabilitierung ehemaligen DDR-Heimkindes neu entscheiden

Die Fachgerichte müssen im Fall eines ehemaligen DDR-Heimkindes erneut über dessen Rehabilitierung entscheiden. Dies hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Die Gerichte hätten die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Pflicht zur gerichtlichen Sachverhaltsaufklärung grob verkannt und zudem das Willkürverbot verletzt. Die Mutter des Beschwerdeführers hatte versucht, mit diesem aus der DDR zu fliehen, der Beschwerdeführer kam danach 14 Monate in ein Heim.

Rehabilitierung nach Heimunterbringung wegen versuchter DDR-Republikflucht begehrt

Der damals 13-jährige Beschwerdeführer reiste im Oktober 1977 zusammen mit seiner Mutter aus der DDR in die Tschechoslowakei, um von dort aus in die Bundesrepublik Deutschland zu gelangen. Beide wurden von tschechoslowakischen Sicherheitskräften verhaftet. Der Beschwerdeführer wurde von seiner Mutter getrennt und in einem Gefangenentransportfahrzeug der Sicherheitsorgane der DDR zunächst nach Schwerin und zwei Tage später in das Kinderheim "Ernst Thälmann" verbracht. Seine Mutter befand sich zunächst in Untersuchungshaft und wurde im Januar 1978 zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Im Juni 1978 wurde sie aus der Haft in die Bundesrepublik ausgesiedelt. Erst im Dezember 1978 konnte die Mutter den Beschwerdeführer in dem Heim abholen und mit ihm in die Bundesrepublik ausreisen. Der Beschwerdeführer beantragte im Februar 2014, ihn wegen der Heimunterbringung nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG) zu rehabilitieren. Das Landgericht Schwerin wies den Antrag als unbegründet zurück. Die dagegen eingelegte Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht Rostock. Auch eine Anhörungsrüge des Beschwerdeführers blieb erfolglos. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügte der Beschwerdeführer unter anderem eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

BVerfG: Fachgerichte haben Sachverhalt unzureichend aufgeklärt

Das BVerfG hat der Verfassungsbeschwerde ganz überwiegend stattgegeben. Es hat die Beschlüsse aufgehoben und die Sache an das LG zurückverwiesen. Die Fachgerichte hätten den entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt, die gerichtlichen Beschlüsse verletzten den Beschwerdeführer daher in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz. Im Rehabilitierungsverfahren verpflichte § 10 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG die Gerichte zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen. Das Gericht müsse sämtliche Erkenntnisquellen verwenden, die erfahrungsgemäß dazu führen könnten, die Angaben eines Betroffenen zu bestätigen. Unterlasse es dies, verweigere es dem Betroffenen die gebotene Überprüfung erheblicher Tatsachen und verfehle damit schlechterdings das gesetzliche Ziel, zur Rehabilitierung politisch (Straf-)Verfolgter die fortdauernde Wirksamkeit von Urteilen der Gerichte oder Entscheidungen der Behörden der ehemaligen DDR zu durchbrechen.

Umstände der Heimeinweisung nicht geklärt

Laut BVerfG haben die Fachgerichte zum einen die Umstände der Heimeinweisung nicht genügend aufgeklärt. Nach verbreiteter obergerichtlicher Rechtsprechungspraxis, die das OLG ersichtlich teile, sei eine Heimeinweisung insbesondere dann rechtsstaatswidrig gewesen, wenn die Eltern eines Kindes aus politischen Gründen in Haft waren und die Heimunterbringung erst dadurch erforderlich wurde, dass aufnahmebereite Dritte von den DDR-Behörden übergangen wurden. Das OLG sei aber den Hinweisen auf die Aufnahmebereitschaft des älteren Halbbruders, der zu diesem Zeitpunkt bereits in der Bundesrepublik gelebt habe, sowie der Großeltern stiefväterlicherseits nicht nachgegangen. Auch habe das OLG nicht hinreichend aufgeklärt, warum der Beschwerdeführer nach Übersiedlung seiner Eltern in die Bundesrepublik noch ein halbes Jahr im Heim verblieben sei. Das Gericht gehe von "organisatorisch-bürokratischen Hemmnissen" aus, ohne dass die hierfür herangezogenen Erkenntnisse dies im Grundsatz und erst recht nicht für die Dauer von sechs Monaten tragfähig stützen können. Den Aufklärungsmöglichkeiten hierzu gehe es nicht nach.

Willkürverbot verletzt

Das BVerfG moniert zudem einen Verstoß gegen das Willkürverbot aus Art. 3 Abs. 1 GG. Das OLG habe seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde gelegt, ohne dass die hierfür maßgeblichen Sachverhaltsfeststellungen nachvollziehbar wären. Das OLG habe festgestellt, die Eltern des Beschwerdeführers hätten sich nicht aktiv um dessen Aufnahme außerhalb eines Heims bemüht. Dabei habe der Beschwerdeführer ausführlich und vom OLG als glaubhaft angesehen vorgetragen, dass seine Mutter aus der Haft heraus Briefe an namentlich benannte Verwandte in der DDR geschrieben, jedoch keine Antwort erhalten hatte. Für das Vorliegen organisatorisch-bürokratischer Hemmnisse fänden sich in den Akten keine dokumentierten Verfahrensschritte von einer bestimmten Dauer. Soweit das OLG Unterhaltsrückstände und diesbezügliche Unstimmigkeiten zwischen den leiblichen Eltern anführe, sei nicht nachvollziehbar, warum daraus eine Verzögerung der Ausreise und damit der Beendigung der Heimunterbringung folge. Im Übrigen hält es das BVerfG für zweifelhaft, ob es unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten ein anerkennenswertes Hemmnis für die verzögerte Heimentlassung eines 14-Jährigen sei, die Begleichung von Unterhaltsrückständen durch seine Mutter zu erzwingen. Eine fürsorgerische Absicht gegenüber dem betroffenen Kind liege darin jedenfalls nicht.

BVerfG, Beschluss vom 09.12.2021 - 2 BvR 1985/16

Redaktion beck-aktuell, 3. Januar 2022.