BVerfG: Beschlüsse der EZB zum Staatsanleihekaufprogramm kompetenzwidrig

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 05.05.2020 mehreren Verfassungsbeschwerden gegen das PSPP-Staatsanleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) teilweise stattgegeben. Die EZB-Beschlüsse seien kompetenzwidrig ergangen, da die EZB die wirtschaftlichen Folgen des Programms ausgeblendet und damit die Verhältnismäßigkeit nicht ausreichend geprüft habe. Bundesregierung und Bundestag seien dagegen nicht vorgegangen und hätten dadurch Grundrechte verletzt. Das hierzu bereits ergangene Urteil des Europäischen Gerichtshofs stehe dieser Entscheidung nicht entgegen, da es in Bezug auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar und somit ebenfalls ultra vires ergangen sei (Az.: 2 BvR 859/15, 2 BvR 980/16, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 1651/15).

EZB beschloss billionenschweres PSPP-Staatsanleihekaufprogramm

Das PSPP-Staatsanleihekaufprogramm ist Teil des Expanded Asset Purchase Programme (EAPP), eines Rahmenprogramms des Eurosystems zum Ankauf von Vermögenswerten. Ausweislich seiner Begründung zielt das EAPP auf eine Ausweitung der Geldmenge. Dadurch sollen Konsum und Investitionen gefördert und die Inflationsrate in der Eurozone auf knapp unter 2% erhöht werden. Das PSPP wurde durch Beschluss der EZB vom 04.03.2015 aufgelegt, der in der Folgezeit durch fünf weitere Beschlüsse geändert wurde. Mit dem PSPP werden - unter im Einzelnen in den Beschlüssen der EZB festgelegten Rahmenbedingungen - Staatsanleihen und ähnliche marktfähige Schuldtitel erworben, die von der Zentralregierung eines Euro-Mitgliedstaats, "anerkannten Organen", internationalen Organisationen und multilateralen Entwicklungsbanken mit Sitz im Euro-Währungsgebiet begeben werden. Das PSPP macht den weitaus größten Teil des EAPP aus. Zum 08.11.2019 hatte das Eurosystem im Rahmen des EAPP Wertpapiere im Gesamtwert von 2.557.800 Millionen Euro erworben, wovon 2.088.100 Millionen Euro auf das PSPP entfielen.

EuGH erachtete Programm für unionsrechtskonform

Die Beschwerdeführer machten mit ihren Verfassungsbeschwerden geltend, dass das PSPP gegen das Verbot monetärer Staatsfinanzierung (Art. 123 AEUV) und das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 119, 127 ff. AEUV) verstoße. Mit Beschluss vom 18.07.2017 legte das BVerfG dem Europäischen Gerichtshof mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vor. Diese betrafen insbesondere das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung, das Mandat der EZB für die Währungspolitik und einen möglichen Übergriff in die Zuständigkeit und Haushaltshoheit der Mitgliedstaaten. Mit Urteil vom 11.12.2018 entschied der EuGH, dass das PSPP nicht über das Mandat der EZB hinausgehe und auch nicht gegen das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung verstoße.

BVerfG: EZB-Beschlüsse zum PSPP-Programm kompetenzwidrig

Das BVerfG hat den Verfassungsbeschwerden teilweise stattgegeben. Bundesregierung und Deutscher Bundestag hätten die Beschwerdeführer in ihrem Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG verletzt, soweit sie es unterlassen haben, geeignete Maßnahmen dagegen zu ergreifen, dass die EZB in ihrem Beschluss (EU) 2015/774, geändert durch die Beschlüsse (EU) 2015/2101, (EU) 2015/2464, (EU) 2016/702 und (EU) 2017/100, weder geprüft noch dargelegt habe, dass die beschlossenen Maßnahmen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Der Beschluss (EU) 2015/774 und die ihn abändernden Beschlüsse  stellten deshalb eine qualifizierte Überschreitung der der EZB in Art. 119, Art. 127 ff. AEUV und Art. 17 ff. ESZB-Satzung zugewiesenen Kompetenzen dar.

EuGH-Urteil ultra vires ergangen und daher nicht bindend

Laut BVerfG steht das Urteil des EuGH vom 11.12.2018 dem nicht entgegen, da dieses insoweit schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar und insoweit ultra vires ergangen sei. Die Auslegung und Anwendung des Unionsrechts einschließlich der Bestimmung der dabei anzuwendenden Methode sei zuvörderst Aufgabe des EuGH, dem es gemäß Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV obliege, bei der Auslegung und Anwendung der Verträge das Recht zu wahren. Die vom EuGH entwickelten Methoden richterlicher Rechtskonkretisierung beruhten dabei auf den gemeinsamen (Verfassungs-)Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten, wie sie sich nicht zuletzt in der Rechtsprechung ihrer Verfassungs- und Höchstgerichte sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte niedergeschlagen hätten. Die Handhabung dieser Methoden und Grundsätze könne - und müsse - derjenigen durch innerstaatliche Gerichte nicht vollständig entsprechen, sie könne sich über diese aber auch nicht ohne weiteres hinwegsetzen. 

Verhältnismäßigkeitsgrundsatz durch Ausblenden aller wirtschaftspolitischen Folgen verkannt

Laut BVerfG verkennt die Auffassung des EuGH, der Beschluss des EZB-Rates über das PSPP und seine Änderungen seien noch kompetenzgemäß, in offensichtlicher Weise Bedeutung und Tragweite des auch bei der Kompetenzverteilung zu beachtenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV) und ist wegen der vollständigen Ausklammerung der tatsächlichen Auswirkungen des Programms auf die Wirtschaftspolitik methodisch schlechterdings nicht mehr vertretbar. Der Ansatz des EuGH, bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung die tatsächlichen Wirkungen außer Acht zu lassen und auf eine wertende Gesamtbetrachtung zu verzichten, verfehle die Anforderungen an eine nachvollziehbare Überprüfung der Einhaltung des währungspolitischen Mandats des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) und der EZB.

EuGH-Ansatz lässt Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung leerlaufen

Bei dieser Handhabung könne der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV) die ihm zukommende Korrektivfunktion zum Schutz mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten nicht erfüllen, was das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 EUV) im Grunde leerlaufen lasse. Das völlige Ausblenden aller wirtschaftspolitischen Auswirkungen widerspreche auch der methodischen Herangehensweise des EuGH in nahezu sämtlichen sonstigen Bereichen der Unionsrechtsordnung. Das werde der Schnittstellenfunktion des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung und den Rückwirkungen, die dieses auf die methodische Kontrolle seiner Einhaltung haben müsse, nicht gerecht.

Prüfungsbeschränkung durch EuGH ermöglicht EZB schleichende Kompetenzerweiterungen

Die vom EuGH vorgenommene Auslegung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und die darauf gestützte Bestimmung des Mandats des EZB überschritten deshalb das ihm in Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV erteilte Mandat, so das BVerfG. Sie gestehe ihr vielmehr selbstbestimmte, schleichende Kompetenzerweiterungen zu oder erkläre diese jedenfalls für gerichtlich nicht oder nur sehr eingeschränkt überprüfbar. Die Wahrung der kompetenziellen Grundlagen der Europäischen Union habe jedoch entscheidende Bedeutung für die Gewährleistung des demokratischen Prinzips und die rechtliche Verfasstheit der Europäischen Union.

EZB-Beschlüsse kompetenzwidrig

Da das BVerfG somit nicht an die Entscheidung des EuGH gebunden sei, müsse es eigenständig beurteilen, ob das Eurosystem mit den Beschlüssen zur Errichtung und Durchführung des PSPP noch innerhalb der ihm primärrechtlich eingeräumten Kompetenzen gehandelt hat. Das sei mangels hinreichender Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit nicht der Fall. Ein Programm zum Ankauf von Staatsanleihen wie das PSPP, das erhebliche wirtschaftspolitische Auswirkungen habe, setze insbesondere voraus, dass das währungspolitische Ziel und die wirtschaftspolitischen Auswirkungen jeweils benannt, gewichtet und gegeneinander abgewogen werden. Die unbedingte Verfolgung des mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziels, eine Inflationsrate von unter, aber nahe 2% zu erreichen, unter Ausblendung der mit dem Programm verbundenen wirtschaftspolitischen Auswirkungen missachte daher offensichtlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Abwägung wirtschaftspolitischer Folgen nicht erkennbar

Die erforderliche Abwägung des währungspolitischen Ziels mit den mit dem eingesetzten Mittel verbundenen wirtschaftspolitischen Auswirkungen ergebe sich nicht aus den verfahrensgegenständlichen Beschlüssen. Sie verstießen deshalb gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV und seien von der währungspolitischen Kompetenz der EZB nicht gedeckt. Die Beschlüsse beschränkten sich auf die Feststellung, dass das angestrebte Inflationsziel nicht erreicht sei und weniger belastende Mittel nicht zur Verfügung stünden. Sie enthielten keine Prognose zu den wirtschaftspolitischen Auswirkungen des Programms sowie dazu, ob sie in einem angemessenen Verhältnis zu den erstrebten währungspolitischen Vorteilen stehen. Es sei nicht ersichtlich, dass der EZB-Rat die im PSPP angelegten und mit ihm unmittelbar verbundenen Folgen erfasst und abgewogen hätte, die dieses aufgrund seines Volumens von über zwei Billionen Euro und einer Laufzeit von mittlerweile mehr als drei Jahren zwangsläufig verursache. Die negativen Auswirkungen des PSPP nähmen mit wachsendem Umfang und fortschreitender Dauer zu, sodass sich mit der Dauer auch die Anforderungen an eine solche Abwägung erhöhen.

Gefahr von Finanzhilfen ohne Reformmaßnahmen und Entwertung von Sparvermögen

Das PSPP verbessere die Refinanzierungsbedingungen der Mitgliedstaaten, weil sich diese zu deutlich günstigeren Konditionen Kredite am Kapitalmarkt verschaffen könnten. Es wirke sich daher erheblich auf die fiskalpolitischen Rahmenbedingungen in den Mitgliedstaaten aus. Es könne insbesondere dieselbe Wirkung haben wie Finanzhilfen nach Art. 12 ff. des ESM-Vertrags. Umfang und Dauer des PSPP könnten dazu führen, dass selbst primärrechtskonforme Wirkungen unverhältnismäßig werden. Das PSPP wirke sich auch auf den Bankensektor aus, indem es risikobehaftete Staatsanleihen in großem Umfang in die Bilanzen des Eurosystems übernehme, dadurch die wirtschaftliche Situation der Banken verbessere und ihre Bonität erhöhe. Zu den Folgen des PSPP gehörten zudem ökonomische und soziale Auswirkungen auf nahezu alle Bürger, die etwa als Aktionäre, Mieter, Eigentümer von Immobilien, Sparer und Versicherungsnehmer jedenfalls mittelbar betroffen seien. So ergäben sich etwa für Sparvermögen deutliche Verlustrisiken. Wirtschaftlich an sich nicht mehr lebensfähige Unternehmen blieben aufgrund des auch durch das PSPP abgesenkten allgemeinen Zinsniveaus weiterhin am Markt. Schließlich begebe sich das Eurosystem mit zunehmender Laufzeit des Programms und steigendem Gesamtvolumen in eine erhöhte Abhängigkeit von der Politik der Mitgliedstaaten, weil es das PSPP immer weniger ohne Gefährdung der Stabilität der Währungsunion beenden und rückabwickeln könne.

Ohne Dokumentation der Abwägung keine effektive gerichtliche Kontrolle möglich

Diese und andere erhebliche wirtschaftspolitische Auswirkungen hätte die EZB gewichten, mit den prognostizierten Vorteilen für die Erreichung des von ihr definierten währungspolitischen Ziels in Beziehung setzen und nach Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten abwägen müssen. Eine solche Abwägung sei, soweit ersichtlich, weder zu Beginn des Programms noch zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt. Ohne die Dokumentation, dass und wie diese Abwägung stattgefunden habe, lasse sich die rechtliche Einhaltung des Mandats der EZB gerichtlich nicht effektiv kontrollieren.

Verletzung der Integrationsverantwortung durch Bundesregierung und Bundestag noch nicht abschließend beurteilbar

Ob Bundesregierung und Bundestag ihre Integrationsverantwortung auch dadurch verletzt hätten, dass sie nicht auf eine Beendigung des PSPP gedrungen haben, könne dagegen nicht abschließend beurteilt werden, weil sich erst nach einer nachvollziehbar dargelegten Verhältnismäßigkeitsprüfung durch den EZB-Rat endgültig feststellen lasse, ob das PSPP in der Sache mit Art. 127 Abs. 1 AEUV vereinbar ist.

Keine verbotene Staatsfinanzierung - Gesamtbetrachtung maßgeblich

Soweit das EuGH-Urteil einen Verstoß gegen Art. 123 Abs. 1 AEUV verneine, begegne die Handhabung der seinem Urteil in der Rechtssache Gauweiler entwickelten "Garantien" für ein Ankaufsprogramm zwar erheblichen Einwänden, da der EuGH darauf verzichte, die im PSPP enthaltenen Vorkehrungen gegen Umgehungen einer näheren Prüfung zu unterziehen, und sich nicht mit gegenläufigen Indikatoren auseinandersetze. Das BVerfG sehe sich insofern aber an die Auffassung des EuGH gebunden, da angesichts der realen Möglichkeit, dass jedenfalls die vom EuGH anerkannten Garantien von der EZB eingehalten worden seien, ein offensichtlicher Verstoß gegen Art. 123 Abs. 1 AEUV noch nicht festgestellt werden könne, so das BVerfG weiter. Zwar habe der EuGH einzelnen "Garantien" wie dem Ankündigungsverbot, der Sperrfrist, dem Verbot des grundsätzlichen Haltens der Anleihen bis zur Endfälligkeit und der Notwendigkeit eines Ausstiegsszenarios ihre Wirkung in der Praxis weitgehend genommen. Ob ein Anleiheankaufprogramm wie das PSPP eine offenkundige Umgehung von Art. 123 Abs. 1 AEUV darstelle, entscheide sich allerdings nicht an der Einhaltung eines einzelnen Kriteriums, sondern auf der Grundlage einer wertenden Gesamtbetrachtung.

Offensichtliche Umgehung des Verbots nicht feststellbar

Im Ergebnis sei eine offensichtliche Umgehung des Verbots monetärer Haushaltsfinanzierung vor allem deshalb nicht feststellbar, weil das Volumen der Ankäufe im Voraus begrenzt ist, die vom Eurosystem getätigten Käufe nur in aggregierter Form bekannt gegeben werden, eine Obergrenze von 33% je Internationaler Wertpapierkennnummer eingehalten wird, Ankäufe nach dem Kapitalschlüssel der nationalen Zentralbanken getätigt werden, nur Anleihen von Körperschaften erworben werden, die aufgrund eines Mindestratings Zugang zum Anleihemarkt besitzen und Ankäufe begrenzt oder eingestellt und erworbene Schuldtitel wieder dem Markt zugeführt werden sollen, wenn eine Fortsetzung der Intervention zur Erreichung des Inflationsziels nicht mehr erforderlich ist.

Haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages nicht verletzt

Eine Verletzung der Verfassungsidentität des Grundgesetzes im Allgemeinen und der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages im Besonderen sei nicht ersichtlich. Zwar würde eine (nachträgliche) Änderung der Risikoverteilung zwischen der EZB und den nationalen Zentralbanken mit Blick auf den Umfang des PSPP von mehr als zwei Billionen Euro die vom BVerfG entwickelten Grenzen der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages berühren und wäre mit Art. 79 Abs. 3 GG unvereinbar. Für die von den nationalen Zentralbanken erworbenen Staatsanleihen ihrer Mitgliedstaaten sehe das PSPP eine solche - primärrechtlich ohnehin verbotene - Risikoteilung jedoch nicht vor.

Bundesregierung und Bundestag müssen auf Verhältnismäßigkeitsprüfung durch EZB hinwirken

Das BVerfG betont, dass Bundesregierung und Deutscher Bundestag aufgrund der ihnen obliegenden Integrationsverantwortung verpflichtet seien, der bisherigen Handhabung des PSPP entgegenzutreten. Im Fall offensichtlicher und strukturell bedeutsamer Kompetenzüberschreitungen durch Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Europäischen Union seien die Verfassungsorgane verpflichtet, im Rahmen ihrer Kompetenzen und mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln aktiv auf die Einhaltung des Integrationsprogramms und die Aufhebung der vom Integrationsprogramm nicht gedeckten Maßnahmen hinzuwirken sowie - solange die Maßnahmen fortwirkten - geeignete Vorkehrungen zu treffen, damit die innerstaatlichen Auswirkungen der Maßnahmen so weit wie möglich begrenzt bleiben. Konkret bedeute dies, dass die Bundesregierung und der Bundestag aufgrund ihrer Integrationsverantwortung verpflichtet seien, auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB hinzuwirken. Entsprechendes gelte für die am 01.01.2019 begonnene Reinvestitionsphase des PSPP und seine Wiederaufnahme zum 01.11.2019. Insoweit dauere auch die Pflicht, die Entscheidungen des Eurosystems über Ankäufe von Staatsanleihen unter dem PSPP zu beobachten und mit den ihnen zu Gebote stehenden Mitteln auf die Einhaltung des dem ESZB zugewiesenen Mandats hinzuwirken, fort.

Bundesbank muss Mitwirkung an Vollzug des PSPP möglicherweise einstellen

Deutsche Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte dürften weder am Zustandekommen noch an Umsetzung, Vollziehung oder Operationalisierung von Ultra-vires-Akten mitwirken. Der Bundesbank sei es daher untersagt, nach einer für die Abstimmung im Eurosystem notwendigen Übergangsfrist von höchstens drei Monaten an Umsetzung und Vollzug der verfahrensgegenständlichen Beschlüsse mitzuwirken, wenn nicht der EZB-Rat in einem neuen Beschluss nachvollziehbar darlegt, dass die mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen. Unter derselben Voraussetzung sei die Bundesbank verpflichtet, für eine im Rahmen des Eurosystems abgestimmte - auch langfristig angelegte - Rückführung der Bestände an Staatsanleihen Sorge zu tragen.

Bundesregierung will sich für Prüfung der EZB-Anleihenkäufe einsetzen

Die Bundesregierung will sich bei der EZB nun für eine gründliche Prüfung der vom BVerfG beanstandeten Staatsanleihenkäufe einsetzen. "Darauf werden wir natürlich hinwirken, das ist klar", sagte Finanzstaatssekretär Jörg Kukies am 05.05.2020 in Karlsruhe. "Wir gehen auch davon aus, dass die EZB das tun wird." Kukies sagte weiter, die Bundesregierung habe die Entscheidung mit großem Respekt zur Kenntnis genommen. Für eine Beurteilung der Konsequenzen sei es im Moment noch zu früh. "Während dieser Frist kann man überhaupt nichts dazu sagen, wie sich das auswirken wird, weil die Verhältnismäßigkeitsprüfung ja in den nächsten drei Monaten stattfinden wird.»"

Scholz betont Zusammenhalt in Währungsunion

Das Urteil stellt nach Ansicht von Finanzminister Olaf Scholz (SPD) den Zusammenhalt in der europäischen Währungsunion nicht in Frage. "Gerade in diesen Tagen, in denen uns die Corona-Krise viel abverlangt, geben uns die gemeinsame Währung und die gemeinsame Geldpolitik den notwendigen Zusammenhalt in Europa", betonte Scholz am 05.05.2020 in Berlin. Das Urteil habe auch keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Bundesbank, sagte Scholz. "Die Bundesbank darf sich vorerst weiterhin an dem gemeinsamen Kaufprogramm beteiligen." Die Bundesregierung habe drei Monate Zeit, die EZB zu einer Überprüfung des beanstandeten Kaufprogramms zu bewegen. Auch die aktuellen Hilfsentscheidungen im Zusammenhang mit der Corona-Krise seien nicht gefährdet, sagte Scholz.

Gauweiler zu Karlsruher Urteil: Widerstand hat Sinn

Die Entscheidung zeigt für den früheren CSU-Politiker Peter Gauweiler, dass Widerstand Sinn habe. Das Ergebnis sei eindeutig, sagte Gauweiler, der zu den Klägern gehört, nach dem Urteilsverkündung. Die Bundesregierung und der Bundestag hätten über Jahre die demokratischen Mitwirkungsrechte der Bürger in Deutschland in verfassungswidriger Weise verletzt. "Die Europäische Zentralbank kann ab sofort nicht mehr auf die Mitwirkung der Bundesbank an ihren Programmen in der bisherigen Weise zählen." Außerdem müsse der Europäische Gerichtshof zur Kenntnis nehmen, "dass ihm heute von einem der anerkanntesten Verfassungsgerichte der Welt offene Willkür vorgehalten worden ist." Für die Bürger bedeute das Urteil, dass sie in der Vergangenheit in rechtloser Weise in ihrem Sparbesitz beeinträchtigt worden seien. Jeder einzelne habe die Möglichkeit, auf rechtlich nachvollziehbare Weise Widerstand zu leisten.

EU-Kommission betont Vorrang für EuGH

Die EU-Kommission erinnerte an den Vorrang europäischen Rechts. Die Urteile des EuGH seien für alle Mitgliedsstaaten bindend, betonte Kommissionssprecher Eric Mamer am 05.05.2020 in Brüssel. Die Kommission achte die Unabhängigkeit der EZB bei der Umsetzung der Geldpolitik. Das am Dienstag ergangene deutsche Urteil müsse nun genau analysiert werden. Der EuGH selbst erklärte auf Anfrage nur, man kommentiere Urteile nationaler Gerichte nicht.

Politiker fordern schnelle Umsetzung der Vorgaben des BVerfG an

Der CSU-Europapolitiker Markus Ferber hat positiv auf das Urteil reagiert. "Es ist zu begrüßen, dass das Bundesverfassungsgericht nun klare formale Kriterien für die Rechtmäßigkeit des Anleihenkaufprogramms formuliert hat", sagte der Finanz-Experte. "Die Forderung nach einer Verhältnismäßigkeitsabwägung stellt nicht die Unabhängigkeit der EZB in Frage." Dies sei eine formale Hürde, die schnell genommen werden müsse. Der SPD-Europaabgeordnete Joachim Schuster erklärte, die Prüfung müsse schnellstmöglich nachgeholt werden. "Die EZB ist derzeit der verlässlichste Krisenmanager, der seiner Pflicht nachkommt den Euroraum zu stabilisieren", betonte der Wirtschaftsexperte. Das gelte auch in der Corona-Pandemie, da die EU-Staats- und Regierungschefs bei der Krisenreaktion uneins seien. Der Grünen-Politiker Sven Giegold kommentierte: "Das Urteil zeigt, dass die Versäumnisse der Euroländer die EZB in eine sehr schwierige Lage gebracht haben. Der Richterspruch muss ein Weckruf für die Bundesregierung sein. Die Verantwortungsabwälzung der Regierungen auf die EZB muss nun ein Ende haben."

BVerfG, Urteil vom 05.05.2020 - 2 BvR 859/15

Redaktion beck-aktuell, 5. Mai 2020.