EuGH nicht angerufen – Erfolgreiche Verfassungsbeschwerden gegen Auslieferungen

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschlüssen vom 30.03.2022 und 20.04.2022 zwei oberlandesgerichtliche Entscheidungen aufgehoben, mit denen die Auslieferungen eines psychisch kranken Afghanen nach Schweden und eines in Italien als Flüchtling anerkannten Türken in die Türkei für zulässig erklärt worden waren. Die Entscheidungen verletzten das Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Die beiden Oberlandesgerichte hätten jeweils den EuGH anrufen müssen.

Psychisch kranker Afghane soll an Schweden ausgeliefert werden

Im dem einen Fall (Az.: 2 BvR 1713/21) ging es um einen unter paranoider Schizophrenie leidenden Afghanen, der in Schweden zu einer freiheitsentziehenden Maßregel der "rechtspsychiatrischen Fürsorge" verurteilt worden war. Der Mann reiste aber im April 2019 in Deutschland ein. Gegen ihn liegt ein schwedischer EU-Haftbefehl vor. Es erging ein Auslieferungshaftbefehl und nach Ablauf einer knapp einmonatigen Unterbringung wurde der Mann festgenommen. Einen Antrag auf Außervollzugsetzung des Auslieferungshaftbefehls, um in einer psychiatrischen Klinik stationär weiterbehandelt werden zu können, lehnte das OLG ab. Eine Aufhebung erfolgte dann kurz darauf, nachdem sich in der JVA der Zustand des Mannes deutlich verschlechtert hatte. Der Mann wurde daraufhin erneut untergebracht. Das OLG erklärte die Auslieferung schließlich für zulässig; allerdings dürfe keine Abschiebung von Schweden nach Afghanistan erfolgen. In der psychischen Erkrankung des Mannes sah es keinen Hinderungsgrund.

In Italien als Flüchtling anerkannter Türke soll an Türkei ausgeliefert werden

In dem anderen Fall (Az.: 2 BvR 2069/21) wurde ein Mann aus der Türkei 2010 in Italien als Flüchtling anerkannt. Die türkischen Behörden schrieben ihn über Interpol zur Festnahme aus. Ihm wird vorgeworfen, bei einer familiären Auseinandersetzung seine Mutter getötet zu haben. Ende November 2020 wurde der Mann in Deutschland vorläufig festgenommen. Das OLG ordnete die vorläufige Auslieferungshaft an. Der Mann bestreitet die Tat. Die Strafverfolgung sei politisch motiviert, da die türkischen Behörden ihn als Kämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verfolgten. Deshalb habe er auch in Italien um Asyl gebeten. Die türkischen Behörden erklärten zwischenzeitlich in mehreren Verbalnoten unter anderem, dass es sich bei der zur Last gelegten Straftat um keine politische oder militärische Straftat handele und dem Beschwerdeführer keine politische Verfolgung drohe. Das OLG erklärte die Auslieferung schließlich für zulässig. Mit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft der italienischen Behörden im Mai 2010 sei kein generelles Auslieferungsverbot begründet worden.

BVerfG: OLG hätte EuGH zu Prüfungspflichten der Vollstreckungsbehörde bei psychischen Erkrankungen befragen müssen   

Laut BVerfG verletzen die Auslieferungsentscheidungen der beiden Oberlandesgerichte die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Die beiden Gerichte hätten nicht ohne Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof entscheiden dürfen. Im ersten Fall sei klärungsbedürftig, ob die vollstreckende Justizbehörde bei Anhaltspunkten für eine psychische Krankheit prüfen muss, ob durch die Überstellung die konkrete Gefahr einer (weiteren) schweren Gesundheitsschädigung droht, und ob im Fall einer solchen konkreten Gefahr ein Überstellungshindernis vorliegt. Die Rechtsprechung des EuGH zu diesen entscheidungserheblichen Fragen sei unvollständig.

Flüchtlingsanerkennung in Italien als Auslieferungshindernis?

Im zweiten Fall sei klärungsbedürftig, ob die bestandskräftige Anerkennung des Beschwerdeführers als Flüchtling in Italien für das Auslieferungsverfahren in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund der unionsrechtlichen Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts verbindlich ist und damit einer Auslieferung in die Türkei zwingend entgegensteht. Diese Frage sei im Schrifttum umstritten und in der EuGH-Rechtsprechung bislang nicht geklärt. Vor diesem Hintergrund hätte sich das OLG mit den unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten von Art. 9 Abs. 2 und Abs. 3 der Asyl-Verfahrensrichtlinie auseinandersetzen und das Absehen von einer Vorlage an den Gerichtshof näher begründen müssen. Letztlich seien die Gründe, aus denen das Gericht von einer fehlenden Bindungswirkung im vorliegenden Fall ausgeht, nicht nachvollziehbar.

BVerfG, Beschluss vom 30.03.2022 - 2 BvR 2069/21

Redaktion beck-aktuell, 4. Mai 2022.

Mehr zum Thema