EU-Haftbefehl: Auslieferung nach Rumänien wegen unzureichender Prüfung der Haftbedingungen unzulässig
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Ein rumänischer und ein irakischer Staatsangehöriger haben sich vor dem Bundesverfassungsgericht erfolgreich gegen ihre Auslieferung nach Rumänien gewehrt. Die Fachgerichte hätten die konkreten Haftbedingungen nicht hinreichend aufgeklärt und damit unzureichend geprüft, ob für die Beschwerdeführer in Rumänien eine konkrete Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Haftbedingungen besteht, so das BVerfG.

EU-Haftbefehl zur Strafvollstreckung gegen rumänischen Staatsangehörigen

Gegen den rumänischen Staatsangehörigen, den Beschwerdeführer zu 1., besteht ein Europäischer Haftbefehl zur Strafvollstreckung zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren insbesondere wegen versuchten Mordes in Rumänien. Das Kammergericht ordnete die Auslieferungshaft an.

Haftraum von drei Quadratmetern nicht durchgängig gewährleistet

Im Verfahrensverlauf teilten die rumänischen Behörden der Generalstaatsanwaltschaft Berlin mit, dass der Beschwerdeführer zu 1. zunächst für eine Quarantänezeit von 21 Tagen in einer Gemeinschaftszelle mit einem persönlichen Raum von mindestens drei Quadratmetern untergebracht werde. Die darauffolgende Haftstrafe werde höchstwahrscheinlich im geschlossenen Vollzug vollstreckt, in dem er wiederum in einer Gemeinschaftszelle einen persönlichen Raum von drei Quadratmetern erhalte. Bei einer Verlegung in ein offenes Vollzugsregime stehe ihm ein individueller persönlicher Raum von zwei Quadratmetern zu.

KG: Haftbedingungen in offenem Vollzug unmaßgeblich

Das KG erklärte die Auslieferung des Beschwerdeführers zu 1. für zulässig. Die Haftbedingungen des (halb)offenen Vollzugsregimes seien nicht maßgeblich, weil ungewiss sei, ob es zu einer Verlegung kommen werde. Die Überprüfung der Haftbedingungen von Vollzugsanstalten, in denen der Beschwerdeführer später inhaftiert sein könnte, falle in die alleinige Zuständigkeit der Gerichte des ersuchten Mitgliedstaats. Die Haftbedingungen in der Quarantäne und im geschlossenen Vollzug entsprächen mit einem Mindesthaftraumanteil von drei Quadratmetern pro Gefangenem den unionsrechtlichen Mindestvorschriften aus Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK.

EU-Haftbefehl zwecks Strafverfolgung gegen Iraker

Gegen den irakischen Staatsangehörigen (Beschwerdeführer zu 2.), besteht ein Europäischer Haftbefehl eines rumänischen Gerichts zur Strafverfolgung wegen Beihilfe zur illegalen Einreise und zum illegalen Aufenthalt. Das Oberlandesgericht Celle ordnete Auslieferungshaft an.

Angemessene Haftbedingungen nach möglicher Verurteilung nicht zugesichert

Zu den zu erwartenden Haftbedingungen für die Untersuchungshaft und für die Strafvollstreckung nach einer möglichen Verurteilung teilten die rumänischen Behörden auf Nachfrage der Generalstaatsanwaltschaft Celle mit, dass die Untersuchungshaft gegen den Beschwerdeführer zu 2. in einem Arrestzentrum vollstreckt werde, in dem ihm mindestens 4,15 Quadratmeter persönlicher Raum zur Verfügung stünden. In welcher Haftanstalt der Beschwerdeführer zu 2. im Fall einer rechtskräftigen Verurteilung untergebracht würde, stehe noch nicht fest. Die Generalstaatsanwaltschaft Celle bat die rumänischen Behörden sodann erneut, zuzusichern, dass der dem Beschwerdeführer nach einer Verurteilung zur Verfügung stehende persönliche Raum mindestens drei Quadratmeter betrage.

OLG Celle baut auf gegenseitiges Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten

Das OLG erklärte die Auslieferung des Beschwerdeführers zu 2. für zulässig, ohne eine Antwort der rumänischen Behörden auf die Nachfrage der Generalstaatsanwaltschaft abzuwarten. Das Vorliegen einer echten Gefahr menschenrechtswidriger Haftbedingungen könne im konkreten Einzelfall ausgeschlossen werden. In Anbetracht des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten seien die Justizbehörden des ersuchten Mitgliedstaats nicht verpflichtet, die Haftbedingungen auch in Haftanstalten, in denen der Beschwerdeführer gegebenenfalls später inhaftiert werden könnte, zu überprüfen.

BVerfG: Unionsgrundrechte Prüfungsmaßstab

Das BVerfG hat den Verfassungsbeschwerden stattgegeben und die Sachen zurückverwiesen. Die angegriffenen Entscheidungen des KG und des OLG Celle verletzten die Beschwerdeführer jeweils in ihrem Grundrecht aus Art. 4 GRCh. Der Rechtsstreit der Ausgangsverfahren betreffe eine unionsrechtlich vollständig determinierte Materie. Die Grundrechte des Grundgesetzes kämen deshalb nicht als unmittelbarer Prüfungsmaßstab zur Anwendung. Maßgeblich seien die Unionsgrundrechte, wie sie insbesondere in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Ausdruck gefunden hätten. Bei der Auslegung der Unionsgrundrechte seien sowohl die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte konkretisierten Konventionsrechte als auch die von den Verfassungs- und Höchstgerichten der Mitgliedstaaten ausgeformten mitgliedstaatlichen Grundrechte, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ergäben, heranzuziehen.

Zweistufige Prüfung der Fachgerichte erforderlich

Das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht müsse in einem durch einen Europäischen Haftbefehl eingeleiteten Überstellungsverfahren nach gefestigter Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs prüfen, ob für den zu Überstellenden eine konkrete Gefahr besteht, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden. Dies sei durch das zuständige Fachgericht in zwei Prüfungsschritten von Amts wegen aufzuklären.

Zunächst allgemeine Haftsituation zu überprüfen

Im ersten, die allgemeine Haftsituation betreffenden Schritt sei das Gericht verpflichtet, anhand objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben zu prüfen, ob es in Bezug auf die Haftbedingungen in den Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaats systemische oder allgemeine Mängel gibt.

Sodann konkret zu erwartende Haftbedingungen zu prüfen

In einem zweiten, auf die Situation des Betroffenen bezogenen Schritt muss das Gericht laut BVerfG genau prüfen, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person nach ihrer Überstellung an den Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund der Haftbedingungen, unter denen sie inhaftiert sein wird, einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt sein wird. Dies erfordere eine aktuelle und eingehende Prüfung der Situation und müsse auf einer Gesamtwürdigung der maßgeblichen, konkret zu erwartenden Haftbedingungen beruhen.

Starke Vermutung für EU-Grundrechtsverstoß bei weniger als 3 m² Raum 

Bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung der Haftbedingungen sei nach der Rechtsprechung des EuGH und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei Gemeinschaftszellen hinsichtlich des einem Inhaftierten zur Verfügung stehenden Raums zu unterscheiden, ob dieser unter drei Quadratmetern, zwischen drei und vier Quadratmetern oder über vier Quadratmetern liegt. Liegt der persönliche Raum in einer Gemeinschaftszelle unter drei Quadratmetern, begründe dies eine starke Vermutung für einen Verstoß gegen Art. 4 GRCh beziehungsweise Art. 3 EMRK.

Korrespondierende Aufklärungspflichten

Mit dem zweistufigen Prüfprogramm seien Aufklärungspflichten des mit einem Überstellungsersuchen befassten Gerichts verbunden. Aus Art. 4 GRCh folge nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union die Pflicht, im Einzelfall zu prüfen und durch zusätzliche Informationen aufzuklären, ob das Grundrecht des zu Überstellenden aus Art. 4 GRCh gewahrt ist. Das Gericht müsse den Ausstellungsmitgliedstaat um die unverzügliche Übermittlung aller notwendigen zusätzlichen Informationen in Bezug auf die Bedingungen bitten, unter denen die betreffende Person in diesem Mitgliedstaat inhaftiert werden solle. Der Ausstellungsmitgliedstaat sei verpflichtet, diese Informationen innerhalb der ihm vom ersuchten Mitgliedstaat gesetzten Fristen zu übermitteln. Könne das Vorliegen einer solchen Gefahr nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausgeschlossen werden, müsse das Gericht darüber entscheiden, ob das Übergabeverfahren zu beenden ist.

Aufklärungspflichten hier nicht ausreichend erfüllt

Die Entscheidungen des KG und des OLG Celle hielten danach einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand, weil sie die Bedeutung und Tragweite von Art. 4 GRCh und die damit verbundenen Aufklärungspflichten nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt hätten, so das BVerfG. Das KG habe die im zweiten Prüfungsschritt erforderliche Gesamtabwägung der maßgeblichen Haftbedingungen nur unzureichend durchgeführt. Das bloße Abstellen auf die mitgeteilte Mindesthaftraumgröße von drei Quadratmetern pro Person sei für die erforderliche Gesamtwürdigung der Haftbedingungen nicht ausreichend, weil der dem Inhaftierten zur Verfügung stehende persönliche Raum zwar ein bedeutender, aber nicht der alleinige Faktor für deren Bewertung ist. Auch bei einem persönlichen Raum in einer Gemeinschaftszelle von drei Quadratmetern beziehungsweise zwischen drei und vier Quadratmetern könnten erniedrigende und unmenschliche Haftbedingungen im Sinne von Art. 4 GRCh vorliegen, wenn zum Raummangel noch weitere defizitäre Haftbedingungen hinzutreten.

KG hätte Haftbedingungen in halboffenem Vollzug berücksichtigen müssen

Das KG sei aufgrund seiner Aufklärungspflichten deshalb verpflichtet gewesen, zusätzliche Informationen über die weiteren Haftbedingungen bei den rumänischen Behörden anzufordern. Es habe seine Prüfung ferner zu Unrecht auf die ersten beiden Vollzugsregime (Quarantäne und geschlossener Vollzug) beschränkt. Bei der erforderlichen Gesamtwürdigung der Haftbedingungen hätte das KG berücksichtigen müssen, dass bei einer hinreichend wahrscheinlichen Überstellung in den halboffenen Vollzug eine dauerhafte Unterbringung in einer Gemeinschaftszelle mit einem persönlichen Raum von nur zwei Quadratmetern mit Art. 4 GRCh unvereinbar ist.

OLG Celle hätte rumänischen Behörden Frist für zusätzliche Informationen setzen müssen

Das OLG Celle sei seiner Aufklärungspflicht nach Art. 4 GRCh auf der zweiten Prüfungsstufe ebenfalls nicht nachgekommen. Die Generalstaatsanwaltschaft habe aufgrund der problematischen Haftbedingungen zusätzliche Informationen von den rumänischen Behörden angefordert sowie diese zur Abgabe einer konkreten Zusicherung für den Strafvollzug im Falle einer Verurteilung des Beschwerdeführers zu 2. aufgefordert. Eine Antwort der rumänischen Behörden auf das zweite Informationsschreiben der Generalstaatsanwaltschaft habe noch ausgestanden. Deshalb sei das OLG verpflichtet gewesen, den rumänischen Behörden eine konkrete Frist für die Übermittlung der angeforderten zusätzlichen Informationen zu setzen und die Entscheidung über die Zulässigkeit der Überstellung bis zum Eingang einer Antwort zurückzustellen. Wäre dies nicht innerhalb einer angemessenen Frist erfolgt, hätte das OLG darüber entscheiden müssen, ob das Überstellungsverfahren hätte beendet werden müssen.

BVerfG, Beschluss vom 01.12.2020 - 2 BvR 1845/18

Redaktion beck-aktuell, 4. Januar 2021.