Erschließungsbeiträge dürfen nicht zeitlich unbegrenzt erhoben werden
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Die zeitlich unbegrenzte Erhebung von Erschließungsbeiträgen nach Eintritt der Vorteilslage (hier: Herstellung einer Straße) ist mit dem Grundgesetz unvereinbar. Sie verstoße gegen das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit, so das Bundesverfassungsgericht, das eine Regelung im KAG Rheinland-Pfalz für verfassungswidrig erklärt hat. Der Landesgesetzgeber müsse nun bis Ende Juli 2022 eine verfassungsgemäße Regelung treffen.

Grundstückseigentümer soll Erschließungsbeiträge für Straßenbau zahlen

Ein Grundstückseigentümer in Rheinland-Pfalz soll Erschließungsbeiträge für den Bau einer an seine Grundstücke angrenzenden Straße zahlen. Die Straße wurde 1985/1986 vierspurig mit einer Länge von knapp 200 Metern gebaut. 1999 wurde die zunächst vorgesehene vierspurige Fortführung der Straße endgültig aufgegeben, stattdessen wurde 2003/2004 zweispurig weitergebaut. 2007 wurde die Straße in ihrer vollen Länge 2007 als Gemeindestraße gewidmet. Die Stadt setzte daraufhin Erschließungsbeiträge fest, zunächst 2007, nach Aufhebung der Bescheide neu 2011. Dagegen klagte der Eigentümer, blieb aber vor Verwaltungs- und Oberverwaltungsgericht überwiegend erfolglos, die sich auf den Standpunkt stellten, die Beitragspflicht sei erst mit Widmung der Straße im Jahr 2007 entstanden, die vierjährige Festsetzungsfrist mithin noch nicht abgelaufen gewesen.

BVerwG ruft BVerfG an

Das Bundesverwaltungsgericht sah dies anders, setzte das Verfahren aus und rief das BVerfG an. Die Vorteilslage sei spätestens mit der endgültigen Aufgabe der durchgehend vierspurigen Herstellung der Straße im Jahr 1999 eingetreten, die Beitragserhebung mithin erst über zehn Jahre danach erfolgt. Eine Regelung, die es – wie § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG Rheinland Pfalz – ermögliche, Erschließungsbeiträge zeitlich unbegrenzt nach dem Eintritt der Vorteilslage zu erheben, sei mit dem Gebot der Belastungsklarheit und  -vorhersehbarkeit (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) nicht vereinbar.

BVerfG: Verstoß gegen Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit

Das BVerfG hat die KAG-Regelung für verfassungswidrig erklärt. Sie sei mit dem Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit unvereinbar, soweit danach nach dem Eintritt der tatsächlichen Vorteilslage unbefristet Beiträge erhoben werden können. Dieses Gebot schütze davor, dass lange zurückliegende, in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossene Vorgänge unbegrenzt zur Anknüpfung neuer Lasten herangezogen werden können. Es erstrecke sich auf alle Abgaben zum Vorteilsausgleich und gelte in allen Fällen, in denen die abzugeltende tatsächliche Vorteilslage in der Sache eintritt, die daran anknüpfenden Beitragsansprüche aber wegen des Fehlens einer sonstigen Voraussetzung nicht entstehen und deshalb auch nicht verjähren können.

Begriff der Vorteilslage muss an tatsächliche Umstände anknüpfen

Das Gebot verlange, dass Betroffene nicht dauerhaft im Unklaren gelassen werden, ob sie noch mit Belastungen rechnen müssen. Der Zeitpunkt, in dem der abzugeltende Vorteil entstehe, müsse daher für die Betroffenen unter Zugrundelegung eines objektiven Empfängerhorizonts auch erkennbar sein. Der Begriff der Vorteilslage müsse somit an rein tatsächliche, für den möglichen Beitragsschuldner erkennbare Gegebenheiten anknüpfen und rechtliche Entstehungsvoraussetzungen für die Beitragsschuld außen vor lassen.

Fachgerichtliche Kriterien für Vorteilslage nicht zu beanstanden

Nach der fachgerichtlichen Rechtsprechung komme es im Erschließungsbeitragsrecht für die abzugeltende Vorteilslage allein auf die tatsächliche bautechnische Durchführung der jeweiligen Erschließungsmaßnahme an. Eine derartige Vorteilslage sei anzunehmen, wenn eine beitragsfähige Erschließungsanlage den an sie zu stellenden technischen Anforderungen entspreche und dies für den Beitragspflichtigen erkennbar sei. Diese fachgerichtliche Rechtsprechung konkretisiere die Anforderungen an die Entstehung der erschließungsrechtlichen Vorteilslage aus der Perspektive des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise.

Verjährungsbeginn wird ohne zeitliche Obergrenze nach hinten verschoben

§ 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP gestatte in Fällen, in denen die mit Erschließungsbeiträgen abzugeltende tatsächliche Vorteilslage eingetreten sei, aber noch nicht alle Voraussetzungen für das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht gegeben seien, die Festsetzung von Erschließungsbeiträgen ohne zeitliche Begrenzung. Denn der Beginn der Festsetzungsfrist hänge von der Entstehung der sachlichen Beitragspflicht ab, obwohl die tatsächliche Vorteilslage schon im Fall einer zulässigen tatsächlichen Nutzbarkeit der Erschließungsanlage und damit bereits vor dem Vorliegen sämtlicher Beitragsentstehungsvoraussetzungen eintreten könne. Die Regelung verschiebe auf diese Weise den Verjährungsbeginn ohne zeitliche Obergrenze nach hinten. Dies werde den Anforderungen des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit nicht gerecht.

Keine Ausschlussfrist in sonstigen Regelungen

Auch aus sonstigen Regelungen ergäben sich keine zeitlichen Grenzen der Erhebung von Erschließungsbeiträgen, die allein an den Zeitpunkt der Erlangung des tatsächlichen Vorteils anknüpften. Eine absolute Ausschlussfrist für die Erhebung von Erschließungsbeiträgen ergebe sich insbesondere auch nicht aus § 53 Abs. 2 Satz 1 VwVfG oder dessen analoger Anwendung. Auch sei der Grundsatz von Treu und Glauben von vornherein nicht geeignet, um dem Beitragspflichtigen Klarheit über Beginn und Dauer der Festsetzungsverjährung bei Erschließungsbeiträgen zu verschaffen.

Gesetzgeber muss angemessene zeitliche Obergrenze schaffen

Es sei Aufgabe des Gesetzgebers, die berechtigten Interessen der Allgemeinheit am Vorteilsausgleich und der Einzelnen an Rechtssicherheit durch entsprechende Gestaltung von Verjährungsbestimmungen zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. Ob dabei die in jedem Fall notwendige zeitliche Obergrenze adäquat bemessen sei, stelle eine primär dem Gesetzgeber überantwortete Frage dar. Jedenfalls genügte eine 30-jährige Ausschlussfrist losgelöst von den Besonderheiten der Wiedervereinigung den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht.

BVerfG, Beschluss vom 03.11.2021 - 1 BvL 1/19

Redaktion beck-aktuell, 24. November 2021.