Erfolglose Wahlprüfungsbeschwerde zur Bundestagswahl 2017
Lorem Ipsum
© vegefox / stock.adobe.com

Das Bundesverfassungsgericht hat eine Wahlprüfungsbeschwerde zur Bundestagswahl 2017 zurückgewiesen. Eine Wählerin hatte ihre Stimme einem Kandidaten gegeben, für den das Wahlergebnis dann aber in ihrem Stimmbezirk null Stimmen feststellte. Die Zurückweisung des Wahleinspruchs halte der Prüfung stand, so das BVerfG. Der Wahlprüfungsausschuss habe auf eine Nachzählung der Stimmen gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 WahlPrüfG verzichten dürfen. Die Regelung sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Ein einzelner Zählfehler allein begründe keine ausnahmsweise bestehende erweiterte Aufklärungspflicht.

Wählerin sah ihre Stimme nicht mitgezählt

Eine Wählerin wandte sich gegen das Wahlergebnis im bayerischen Wahlkreis Amberg bei der Bundestagswahl 2017. Sie gab an, sie habe ihre Erststimme dem Beschwerdeführer zu 2. gegeben. Das Wahlergebnis in ihrem Stimmbezirk wies aber null Stimmen für ihn aus. Anschließend wurde der stellvertretende Kreiswahlleiter um Überprüfung gebeten. Eine Neuauszählung der Stimmen lehnte die Kreiswahlleitung ab. Den anschließend eingelegten Wahleinspruch wies der Deutsche Bundestag zurück. Es sei ungeklärt, ob die Frau  tatsächlich eine Stimme für den Beschwerdeführer zu 2. abgegeben habe und diese fälschlicherweise nicht gezählt worden sei. Die Kreiswahlleitung habe eine Neuauszählung zu Recht abgelehnt. Auch der Wahlprüfungsausschuss habe eine solche nicht vornehmen müssen. Denn an der objektiv richtigen Zusammensetzung des Bundestages bestünden keine Zweifel. Dagegen legten die Wählerin und der Kandidat eine Wahlprüfungsbeschwerde ein, mit der sie eine Verletzung der Wahlgleichheit rügten.

BVerfG: Keine Nachzählung erforderlich

Die Wahlprüfungsbeschwerde hatte keinen Erfolg. Der Beschluss des Deutschen Bundestages sei formell und materiell rechtmäßig, so das BVerfG. Der formellen Rechtmäßigkeit stehe nicht entgegen, dass der Wahlprüfungsausschuss auf eine Nachzählung der abgegebenen Stimmen verzichtet hat. Der Umfang der Ermittlungspflicht des Wahlprüfungsausschusses werde durch die 2012 eingeführte Regelung in § 5 Abs. 3 Satz 2 WahlPrüfG beschränkt. Danach führe der Wahlprüfungsausschuss über die Einholung von Auskünften hinausgehende Ermittlungen in der Regel nur durch, wenn eine Auswirkung der Rechtsverletzung auf die Verteilung der Sitze im Bundestag nicht auszuschließen ist. Allerdings verbleibe dem Wahlprüfungsausschuss nach dem Wortlaut der Norm ("in der Regel") ein Spielraum, ausnahmsweise auch in Fällen subjektiver Wahlrechtsverletzungen ohne Mandatsrelevanz weitere Aufklärungsmaßnahmen durchzuführen.

Eingeschränkte Ermittlungspflicht verfassungskonform

Laut BVerfG ist die Regelung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. § 5 Abs. 3 Satz 2 WahlprüfG überschreite nicht den Spielraum, der dem Gesetzgeber nach Art. 41 Abs. 3 GG zur Ausgestaltung der Wahlprüfung eingeräumt sei. Der Gesetzgeber sei nicht verpflichtet gewesen, ein Verfahren einzuführen, das gewährleiste, dass bei der Prüfung einer Verletzung subjektiver Wahlrechte der Sachverhalt stets von Amts wegen in vollem Umfang ermittelt wird. Vielmehr habe es ihm freigestanden, die Ermittlungspflicht des Wahlprüfungsausschusses mit Blick auf subjektive Rechtsverletzungen ohne Mandatsrelevanz im Regelfall einzuschränken, um dadurch dem verfassungsrechtlich legitimen Ziel, über die ordnungsgemäße Zusammensetzung des Parlaments in angemessener Zeit zu entscheiden, Rechnung zu tragen. Der verfahrensrechtlichen Absicherung des grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG trage dabei insbesondere Rechnung, dass die Begrenzung der Aufklärungspflicht in Fällen ohne Mandatsrelevanz nach dem Wortlaut des § 5 Abs. 3 Satz 2 WahlPrüfG zwar in der Regel gelte, weitere Aufklärungsmaßnahmen in Ausnahmefällen aber möglich blieben.

Ausnahmsweise erweiterte Aufklärungspflicht

Bei der Anwendung des § 5 Abs. 3 Satz 2 WahlPrüfG sei aber der Bedeutung des grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG Rechnung zu tragen. Entsprechend sei ein Ausnahmefall erweiterter Aufklärungspflichten im Sinne der Norm regelmäßig dann anzunehmen, wenn Umstände hinreichend plausibel vorgetragen sind, deren Vorliegen einen besonders schwerwiegenden Eingriff in das grundrechtsgleiche Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG zur Folge hätte. In diesem Fall könne sich die gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 WahlPrüfG verbleibende Möglichkeit des Wahlprüfungsausschusses, auch zur Prüfung des Vorliegens allein subjektiver Rechtsverletzungen weitere Ermittlungen anzustellen, aus verfassungsrechtlichen Gründen zu einer Pflicht verdichten, den Sachverhalt möglichst umfassend aufzuklären. Bei der Frage, wann ein solcher Ausnahmefall vorliege, sei von den Umständen des jeweiligen Einzelfalles auszugehen.

Kein Ausnahme bei lediglich einzelnem Zählfehler

Grundsätzlich stelle die Nichtberücksichtigung einer Stimme mit Blick auf die überragende Bedeutung des Wahlrechts im demokratischen Staat einen schwerwiegenden Wahlfehler dar, betont das BVerfG. Allerdings sei in Rechnung zu stellen, dass es sich bei der Bundestagswahl um ein Massenverfahren handelt, das zügig durchgeführt werden und zeitnah zur Feststellung des Wahlergebnisses führen müsse. Angesichts der Menge an auszuzählenden Stimmen sei trotz der Vorkehrungen, die der Gesetzgeber getroffen habe, das Auftreten von Zählfehlern in Einzelfällen unvermeidbar. Werde das Auftreten derartiger Zählfehler lediglich in einem geringen Umfang behauptet, der zweifelsfrei nicht geeignet sei, Mandatsrelevanz zu entfalten, sei die Legitimationsfunktion der Wahl nicht betroffen. Es sei deshalb verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die Behauptung eines einzelnen – zweifelsfrei nicht mandatsrelevanten – Zählfehlers für sich genommen nicht als ausreichend angesehen wird, um einen Ausnahmefall zu begründen, welcher den Wahlprüfungsausschuss zu weiteren Ermittlungen verpflichtet.

Umfassende Ermittlungspflicht bei möglicher Wahlfälschung

Etwas Anderes gelte, wenn – woran es hier fehle – Umstände substantiiert vorgetragen oder ersichtlich sind, die über einen bloßen Zählfehler hinausweisen. In diesem Fall könne die fundamentale Bedeutung des aktiven und passiven Wahlrechts den Wahlprüfungsausschuss dazu verpflichten, den Sachverhalt so umfassend wie möglich zu ermitteln. Dies gelte jedenfalls bei einer möglichen Wahlfälschung im Sinne von § 107a StGB. Auch bei vergleichbar schwerwiegenden Beeinträchtigungen des subjektiven Wahlrechts könne auch ohne Mandatsrelevanz die Wahrnehmung der dem Wahlprüfungsausschuss zustehenden Ermittlungsmöglichkeiten ausnahmsweise geboten sein.

Kreiswahlleitung durfte Nachzählung ablehnen

Dem BVerfG zufolge ist der Beschluss des Deutschen Bundestages auch materiell-rechtlich nicht zu beanstanden. Die Tatsache, dass die Kreiswahlleitung eine Nachzählung der im betroffenen Stimmbezirk abgegebenen Stimmen abgelehnt habe, stelle keinen Wahlfehler dar. Die Einwände gegen die Zählung der Erststimme der Beschwerdeführerin zu 1. seien dem Kreiswahlausschuss zum Zeitpunkt der Feststellung des Wahlergebnisses nicht bekannt und für ihn auch nicht erkennbar gewesen. Eine diesbezügliche Unterrichtung der Kreiswahlleitung sei erst erfolgt, nachdem der Kreiswahlausschuss das endgültige Wahlergebnis ermittelt und festgestellt hatte. Für diesen Zeitpunkt sei eine Nachzählung der Stimmen gesetzlich nicht mehr vorgesehen. Schließlich hält das BVerfG fest, dass es selbst keine eigenen Ermittlungen zum Vorliegen eines Wahlfehlers habe durchführen müssen. Habe der Deutsche Bundestag verfahrensfehlerfrei von weiteren Ermittlungen gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 WahlPrüfG abgesehen, bestehe für das BVerfG weder die Veranlassung noch die Befugnis, weitergehende Ermittlungen anzustellen.

BVerfG, Beschluss vom 12.01.2022 - 2 BvC 17/18

Redaktion beck-aktuell, 9. Februar 2022.