BVerfG bestätigt vorläufige Anwendung von CETA
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Das Bundesverfassungsgericht hat zahlreiche Verfassungsbeschwerden und eine Organklage der Bundestagsfraktion Die Linke gegen die vorläufige Anwendung des europäisch-kanadischen Freihandelsabkommens CETA zurückgewiesen. Zwar äußert das BVerfG teilweise Zweifel an CETA, so hinsichtlich der vorgesehenen Schiedsgerichte. Allerdings sei die Anwendbarkeit von CETA während der vorläufigen Anwendung eingeschränkt.

Regierung erteilte Zustimmung für vorläufige Anwendung von CETA

Nach jahrelangen Verhandlungen unterbreitete die Europäische Kommission dem Rat der Europäischen Union im Juli 2016 den Vorschlag, die Unterzeichnung des europäisch-kanadischen Wirtschafts- und Handelsabkommen CETA zu genehmigen, die vorläufige Anwendung zu erklären, bis die für seinen Abschluss erforderlichen Verfahren abgeschlossen sind, und das Abkommen abzuschließen. Eilanträge mit dem Ziel, dies zu verbieten, lehnte das BVerfG mit Maßgaben für die Bundesregierung ab. CETA wurde schließlich als gemischtes Abkommen behandelt, auch da ein Großteil der Mitgliedstaaten die EU in zahlreichen von CETA geregelten Bereichen für unzuständig hielten (etwa Investitionsschutz). Im Oktober 2016 beschloss der Rat der EU die Unterzeichnung und die vorläufige Anwendung von CETA. Eine Reihe von Bereichen wurde von der vorläufigen Anwendung ausgenommen. Am 21.09.2017 trat CETA vorläufig in Kraft. In zwölf Mitgliedstaaten der Europäischen Union, darunter die Bundesrepublik Deutschland, ist das Verfahren zur Ratifikation noch nicht abgeschlossen. Auch die Ratifikation durch Kanada und die Europäische Union steht noch aus.

Ultra-vires-Akt und Verletzung der Verfassungsidentität gerügt

Die Beschwerdeführenden erachteten unter anderem die Zustimmung des deutschen Vertreters zur vorläufigen Anwendung von CETA für verfassungswidrig. Sie rügten eine Verletzung ihres grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG. Sie monierten einen Ultra-vires-Akt und eine Verletzung der Verfassungsidentität. Die Antragstellerin im Organstreitverfahren, die Bundestagsfraktion Die Linke, machte in Prozessstandschaft Rechte des Bundestages geltend. Die Nichtablehnung von CETA durch die Bundesregierung verletze Gestaltungsrechte des Bundestages aus Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 59 Abs. 2 GG. Ferner monierte auch sie eine Verletzung der Verfassungsidentität.

BVerfG: Zustimmung für vorläufige Anwendung von CETA verfassungskonform

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerden und den Organstreitantrag teilweise als unzulässig (CETA-Unterzeichnung, CETA-Abschluss) verworfen und sie im Übrigen zurückgewiesen. Die Mitwirkung des deutschen Vertreters am Beschluss des Rates der EU über die vorläufige Anwendung von CETA sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Dieser sei weder als Ultra-vires-Akt zu qualifizieren, noch verstoße er gegen die Grundsätze des Demokratieprinzips im Sinn von Art. 20 Abs. 1 und 2 GG als Teil der Verfassungsidentität des Grundgesetzes. Der Beschluss des Rates erstrecke sich unter Berücksichtigung der für seine Anwendung festgelegten Maßgaben nur auf Gegenstände, die unstreitig in die Zuständigkeit der Europäischen Union fielen. Soweit die Vertragsschlusskompetenz für Portfolioinvestitionen, den Investitionsschutz, den internationalen Seeverkehr, die gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen und den Arbeitsschutz umstritten sei, sei die vorläufige Anwendung beschränkt.

Möglicher Ultra-vires-Akt durch Anwendungseinschränkungen ausgeschlossen

Soweit sich der Beschluss des Rates zur vorläufigen Anwendung von CETA als Ultra-vires-Akt darstellen könnte, weil mit CETA möglicherweise Hoheitsrechte auf das Gerichts- und das Ausschusssystem weiterübertragen werden und zweifelhaft sei, ob die Beanspruchung einer umfassenden unionalen Vertragsschlusskompetenz im Bereich der gemeinsamen Handelspolitik, die eine entsprechende Mediatisierung der Mitgliedstaaten bedeutete und mit einem weitreichenden Eingriff in deren (Völker-)Rechtssubjektivität einherginge, noch von Art. 23 Abs. 1 GG gedeckt wäre, werde ein solches Risiko durch die nur eingeschränkte Anwendbarkeit von Kapitel 8 CETA (Investitionen) und die Erklärungen zum Ratsprotokoll betreffend den Gemischten CETA-Ausschuss ausgeschlossen. Insbesondere würden entsprechende Entscheidungen ausweislich der Erklärung Nr. 19 zum Ratsprotokoll einvernehmlich getroffen, wodurch eine Zustimmung des deutschen Ratsvertreters sichergestellt werde. Laut BVerfG ist im Ergebnis davon auszugehen, dass die mitgliedstaatlichen Kompetenzen durch den Beschluss des Rates über die vorläufige Anwendung von CETA gewahrt worden seien. Jedenfalls sei durch die Einschränkungen, die dieser Beschluss erfahren habe, und die in diesem Zusammenhang abgegebenen Erklärungen ein offensichtlicher und strukturell bedeutsamer Übergriff in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten ausgeschlossen.

Grundsätze der Demokratie und der Volkssouveränität nicht berührt

Auch eine Berührung der Verfassungsidentität des Grundgesetzes und insbesondere der Grundsätze der Demokratie und der Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) scheide aus, so das BVerfG weiter. Was den Gemischten Ausschuss anbetreffe, der unter anderem die Befugnis habe, Änderungen des Abkommens zu beschließen und Protokolle und Anhänge zu ändern, bestünden zwar Zweifel im Hinblick auf das Demokratieprinzip. Denn es könne nicht ausgeschlossen werden, dass solche Beschlüsse des Ausschusses keiner Zustimmung durch die Vertragsparteien bedürfen. Dies könne im vorliegenden Zusammenhang jedoch dahinstehen, weil durch die den Beschluss über die vorläufige Anwendung flankierenden Einschränkungen in den Erklärungen zum Ratsprotokoll eine Berührung des Demokratieprinzips ausgeschlossen ist. Insbesondere folge aus Entstehungsgeschichte und Kontext der Erklärung Nr. 19, dass der von der EU und ihren Mitgliedstaaten im Gemischten Ausschuss einzunehmende Standpunkt zu einem Beschluss dieses Gremiums immer einvernehmlich festgelegt wird. Das setze eine Zustimmung des deutschen Vertreters im Rat der EU voraus, sodass eine etwaige Berührung der Verfassungsidentität (Art. 79 Abs. 3 GG) durch Kompetenzausstattung und Verfahren des Ausschusssystems während der vorläufigen Anwendung von CETA nicht zu besorgen sei.

Auslegung zum Zeitpunkt der Beschlussfassung des EU-Rats maßgeblich

Laut BVerfG bemisst sich die verfassungsrechtliche Beurteilung der hier angegriffenen Mitwirkung des deutschen Vertreters am Beschluss des Rates der EU vom Oktober 2016 nach dem Inhalt, den dieser Beschluss zum Zeitpunkt der Beschlussfassung bei verständiger Auslegung habe. Auf seine spätere Anwendung komme es insoweit nicht an. Für den vorliegenden Fall sei daher ohne Belang, dass das CETA-Ausschusssystem im Rahmen der vorläufigen Anwendung des Abkommens aktiviert wurde. Die Bundesregierung habe allerdings bekundet, dass die Ausschüsse im Rahmen der vorläufigen Anwendung keine Beschlüsse über Bereiche treffen, die in die mitgliedstaatliche Kompetenz fallen. Nichts anderes gelte im Hinblick auf das nach der Beschlussfassung des Rates erstattete EUSFTA-Gutachten des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 16.05.2017, das in Bezug auf die mitgliedstaatlichen Kompetenzen im Bereich des internationalen Seeverkehrs, der gegenseitigen Anerkennung von Berufsqualifikationen und des Arbeitsschutzes von der Beurteilung abweiche, die dem Urteil des Senats vom 13.10.2016 zugrunde gelegen habe. Für die Frage, ob die Bundesregierung mit der Zustimmung zum Beschluss des Rates über die vorläufige Anwendung von CETA vom Oktober 2016 ihre Integrationsverantwortung verletzt habe, komme es darauf nicht an. Allerdings blieben die Verfassungsorgane verpflichtet, während der vorläufigen Anwendung ergriffenen Maßnahmen, die sich als Ultra-vires-Akt oder als Berührung der Verfassungsidentität erwiesen, entgegenzutreten. Sollte dies nicht erfolgreich sein, verbleibe der Bundesregierung in letzter Konsequenz die Möglichkeit, die vorläufige Anwendung des Abkommens zu beenden. Die Organklage der Fraktion Die Linke sei – soweit zulässig – aus denselben Gründen offensichtlich unbegründet.

BVerfG, Beschluss vom 15.03.2022 - 2 BvR 1368/16

Redaktion beck-aktuell, 15. März 2022.