BVerfG bestätigt Schulschließungen und Ausgangsbeschränkungen
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© Uli Deck / dpa

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mehrere Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen, die sich gegen Schulschließungen nach der vom 22.04. bis zum 30.06.2021 geltenden "Bundesnotbremse" richten. Auch die bußgeldbewehrten Ausgangsbeschränkungen sowie bußgeldbewehrten Kontaktbeschränkungen bestätigten die Verfassungsrichter.

Beschwerdeführer: Grundrechtseingriffe verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt

Gegenstand der Entscheidungen war die Notbremse, die in der Dritten Coronawelle seit dem 24.04.2021 bundesweit gezogen werden musste, sobald die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz über mehrere Tage den Wert 100 überschritt. Der Wert gibt an, wie viele Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner es binnen einer Woche gab. Die meisten Klagen hatten sich gegen die verhängten nächtlichen Ausgangsbeschränkungen (§ 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG a.F.) und die Schulschließungen (§ 28 Abs. 3 IfSG a.F.) gerichtet. Die Kläger waren der Ansicht, durch die Regeln erheblich in ihren Grundrechten eingeschränkt zu sein, ohne dass diese Einschränkungen verfassungsrechtlich gerechtfertigt gewesen seien. Vorgesehen war damals unter anderem, dass nachts zwischen 22.00 und 5.00 Uhr von Ausnahmen abgesehen niemand mehr draußen sein durfte. Menschen aus einem Haushalt durften sich nur mit einer anderen Person und deren Kindern bis 14 Jahren treffen. Schulen war vorgegeben, ab dem Schwellenwert 100 auf Wechselunterricht umzustellen, ein Teil der Schüler musste also zu Hause bleiben. Ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 165 war Präsenzunterricht ganz untersagt. Auch hier gab es Ausnahmen.

BVerfG wies Eilanträge ab

Die Einführung der Notbremse hatte eine Klagewelle in Karlsruhe ausgelöst. Weil die Maßnahmen direkt per Bundesgesetz vorgeschrieben wurden, war der Umweg über die Verwaltungsgerichte nicht nötig. Bis zur zweiten Augusthälfte waren beim Verfassungsgericht mehr als 300 Verfassungsbeschwerden und Eilanträge eingegangen. Diese hatte das Bundesverfassungsgericht im Mai zwar abgewiesen, da weder die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen noch die Schulschließungen offensichtlich verfassungswidrig seien und die vom Gericht im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes vorzunehmende Folgenabwägung zu Lasten der Antragsteller ausfalle. Die Richter betonten damals aber, dass der Ausgang des Hauptverfahrens offen sei. Um die Verfahren schneller abschließen zu können, hatte der Senat auf eine Verhandlung verzichtet. Von Experten aus den unterschiedlichsten Fachbereichen wurden aber Stellungnahmen erbeten, etwa von Virologen, Intensivmedizinern und Kinderärzten.

Entscheidung zu Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen

Mit dem ersten der heute veröffentlichtem Beschlüsse vom 19.11.2021 hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in mehreren Hauptsacheverfahren Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen, die sich unter anderem gegen die durch das Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22.04.2021 in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG für einen Zeitraum von gut zwei Monaten eingefügten bußgeldbewehrten Ausgangsbeschränkungen sowie bußgeldbewehrten Kontaktbeschränkungen nach § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG zur Eindämmung der Corona-Pandemie richteten. Die beanstandeten Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen waren Bestandteile eines Schutzkonzepts des Gesetzgebers, das unter dem Namen "Bundes-Notbremse" bekannt geworden ist. Dieses diente in seiner Gesamtheit dem Lebens- und Gesundheitsschutz sowie der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems als überragend wichtigen Gemeinwohlbelangen. Die Maßnahmen griffen allerdings in erheblicher Weise in verschiedene Grundrechte ein. Das Bundesverfassungsgericht hat die Maßnahmen anhand der allgemein für sämtliche mit Grundrechtseingriffen verbundenen Gesetze geltenden verfassungsrechtlichen Anforderungen geprüft. Danach waren die hier zu beurteilenden Kontakt- und selbst die Ausgangsbeschränkungen in der äußersten Gefahrenlage der Pandemie mit dem Grundgesetz vereinbar. Insbesondere waren sie trotz des Eingriffsgewichts verhältnismäßig. Soweit in diesem Verfahren weitere Maßnahmen des Gesetzes zur Eindämmung der Pandemie angegriffen wurden, wie etwa die Beschränkungen von Freizeit- und Kultureinrichtungen, Ladengeschäften, Sport und Gaststätten, war die entsprechende Verfassungsbeschwerde nicht zulässig erhoben.

Entscheidung zu Schulschließungen

Mit dem zweiten heute veröffentlichten Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht mehrere Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen, die sich gegen das vollständige oder teilweise Verbot von Präsenzunterricht an allgemeinbildenden Schulen zum Infektionsschutz ("Schulschließungen") nach der "Bundes-Notbremse" richteten. Das Bundesverfassungsgericht erkennt mit dieser Entscheidung erstmals ein Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat auf schulische Bildung an. In dieses Recht griffen die seit Beginn der Pandemie in Deutschland erfolgten Schulschließungen in schwerwiegender Weise ein, wie die in den sachkundigen Stellungnahmen dargelegten tatsächlichen Folgen dieser Maßnahmen deutlich zeigen. Diesem Eingriff standen allerdings nach Ansicht der Verfassungsrichterinnen und -richter infolge des dynamischen Infektionsgeschehens zum Zeitpunkt der Verabschiedung der "Bundes-Notbremse" Ende April 2021, zu dem die Impfkampagne erst begonnen hatte, überragende Gemeinwohlbelange in Gestalt der Abwehr von Gefahren für Leben und Gesundheit und für die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems gegenüber, denen nach der seinerzeit vertretbaren Einschätzung des Gesetzgebers auch durch Schulschließungen begegnet werden konnte.

Zwei Faktoren für Wahrung der Verhältnismäßigkeit entscheidend

Dafür, dass der Gesetzgeber in dieser Situation den Schülerinnen und Schülern den Wegfall von Unterricht in der Schule trotz der damit verbundenen schwerwiegenden Belastungen zumuten konnte, seien unter anderem folgende Faktoren von Bedeutung gewesen: Zu vollständigen Schulschließungen sei es - anders als bei den sonstigen Beschränkungen zwischenmenschlicher Kontakte - nicht bereits bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 im jeweiligen Landkreis oder der jeweiligen kreisfreien Stadt gekommen, sondern erst bei einem weit höheren Wert von 165. Die Länder seien verfassungsrechtlich verpflichtet gewesen, wegfallenden Präsenzunterricht auch während der Geltung der "Bundes-Notbremse" nach Möglichkeit durch Distanzunterricht zu ersetzen. Die Schulschließungen seien auf einen kurzen Zeitraum von gut zwei Monaten befristet gewesen. Damit sei gewährleistet gewesen, dass die schwerwiegenden Belastungen nicht über einen Zeitpunkt hinaus golten, zu dem der Schutz von Leben und Gesundheit etwa infolge des Impffortschritts seine Dringlichkeit verlieren könnte. Schließlich habe der Bund bereits vor Verabschiedung der Bundesnotbremse Vorkehrungen mit dem Ziel getroffen, dass etwaige künftige, auch die Schulen betreffende Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie die Schülerinnen und Schüler möglichst nicht mehr derart schwerwiegend belasten. Dazu zählten unter anderem eine vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte Studie zur Erforschung der Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen ("StopptCOVID-Studie") sowie Finanzhilfen des Bundes an die Länder im Rahmen des "DigitalPaktSchule" von insgesamt 1,5 Milliarden Euro zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Durchführung digitalen Distanzunterrichts. Beide Beschlüsse wurden von allen acht Richterinnen und Richtern des Senats einstimmig mitgetragen.

Diskussionen über Maßnahmen in der Vierten Welle

Um das sich rasant ausbreitende Virus zu stoppen und die Lage auf den Intensivstationen zu entschärfen, gibt es unterdessen aus mehreren Ländern bereits Forderungen nach einer neuen "Bundes-Notbremse". Um 13.00 Uhr wollen die geschäftsführende Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr designierter Nachfolger Olaf Scholz (SPD) mit den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder telefonisch über mögliche Konsequenzen beraten. "Wir müssen uns das Urteil und seine Begründung natürlich sehr genau anschauen, aber wir sind auch in einer anderen Situation heute", sagte die SPD-Vorsitzende Saskia Esken im ZDF-"Morgenmagazin". Sie verwies auf die höhere Impfquote als im Frühjahr, "so dass diejenigen, die sich impfen haben lassen und die sich jetzt boostern lassen, auch erwarten dürfen, dass wir differenzieren bei der Frage der Einschränkungen, der Kontaktbeschränkungen und auch bei den Beschränkungen für große Veranstaltungen und ähnliches". Der Grünen-Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen sprach sich gegen allgemeine, stattdessen für gezielte Schließungen dort aus, wo die Lage außer Kontrolle sei. "Schulen und Kitas sollten mit Masken und täglichen Tests aber möglichst offen bleiben." Für Ungeimpfte sollte es Kontaktbeschränkungen im Privaten wie im ersten Lockdown geben. Er forderte auch Schließungen von Gastronomie, Bars, Diskotheken sowie das Untersagen größerer Veranstaltungen. Sein Parteichef Robert Habeck sprach sich dafür aus, dass Bundesländer mit hohen Inzidenzen die Schulferien vorziehen. Der geschäftsführende Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe: "Wir brauchen jetzt eine Notbremse, dabei zählt nun jeder Tag." Er forderte unter anderem, in Regionen mit besonders kritischem Infektionsgeschehen über Schließungen von Freizeit-Einrichtungen nachzudenken. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) mahnte erneut ein entschlossenes und gemeinsames Handeln aller an. Dazu gehöre es etwa, den Apotheken die Möglichkeit zum Impfen zu geben und für genügend Impfstoff zu sorgen.

Denkbare Optionen

Schnell zu bewerkstelligen wäre, dass der Bundestag die erst am 25.11.2021 ausgelaufene "epidemische Lage von nationaler Tragweite" doch wieder feststellt - mit einem einfachen Beschluss. Damit gäbe es auf einen Schlag eine Rechtsbasis für alle bisherigen Kriseninstrumente. Dies könnte in der nächsten regulären Sitzungswoche ab dem 06.12.2021 oder früher in einer Sondersitzung geschehen. Insbesondere die Union hatte kritisiert, dass die Ampel diese Rechtsgrundlage hatte auslaufen lassen. Außerdem könnte die von den Ampel-Fraktionen verkleinerte Maßnahmenliste unabhängig von der epidemischen Lage erweitert werden. Aktuell sind etwa pauschale Schließungen von Gaststätten und Läden oder Inlands-Reisebeschränkungen in einem ganzen Bundesland noch ausgeschlossen. Das könnte sich wieder ändern. Nötig wäre dafür aber ein Gesetzgebungsverfahren im Bundestag mit Zustimmung des Bundesrats. Rascher festzurren könnte weitergehende Vorgaben festzurren eine Ministerpräsidentenkonferenz mit dem Bund. Denkbar wären dabei zum Beispiel neue oder niedrigere Schwellen für zusätzliche Auflagen und Beschränkungen bei hohen Infektionszahlen oder Klinikbelastungen. So oder so - auch über diese kommenden Entscheidungen wird das Bundesverfassungsgericht vermutlich wieder entscheiden müssen.

BVerfG, Beschluss vom 19.11.2021 - 1 BvR 781/21

Redaktion beck-aktuell, 30. November 2021 (ergänzt durch Material der dpa).