BVerfG befragt EuGH zu umstrittenen Staatsanleihenkäufen der Europäischen Zentralbank

Der Gerichtshof der Europäischen Union soll die umstrittenen Staatsanleihenkäufe der Europäischen Zentralbank (EZB) überprüfen. Mit Beschluss vom 18.07.2017 hat das Bundesverfassungsgericht ihm die Frage vorgelegt, ob das Public Sector Purchase Programme (PSPP) der EZB zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Nach Auffassung des BVerfG sprechen gewichtige Gründe dafür, dass die dem Anleihenkaufprogramm zugrundeliegenden Beschlüsse gegen das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung verstoßen sowie über das Mandat der EZB für die Währungspolitik hinausgehen und damit in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten übergreifen. Das BVerfG beantragte ein beschleunigtes Verfahren, weil die Rechtssache eine rasche Erledigung erfordere (Az.: 2 BvR 859/15, 2 BvR 980/16, 2 BvR 2006/15 und 2 BvR 1651/15, BeckRS 2017, 120645).

Verstöße gegen AEUV und EUV geltend gemacht

Das PSPP ist Teil des Expanded Asset Purchase Programme (EAPP), eines Rahmenprogramms der EZB zum Ankauf von Vermögenswerten. Das PSPP macht den weitaus größten Anteil des Gesamtvolumens des EAPP aus. Zum 12.05.2017 erreichte das EAPP ein Gesamtvolumen von 1.862,1 Milliarden Euro; hiervon entfielen allein 1.534,8 Milliarden Euro auf das PSPP. Die Beschwerdeführer machen mit ihren Verfassungsbeschwerden geltend, dass das Europäische System der Zentralbanken mit dem von ihm aufgelegten Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors gegen das Verbot monetärer Staatsfinanzierung (Art. 123 AEUV) und das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 119, 127 ff. AEUV) verstoße. Deshalb dürfe die Deutsche Bundesbank an diesem Programm nicht mitwirken. Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung seien verpflichtet, geeignete Maßnahmen gegen das Programm zu ergreifen.

BVerfG zweifelt an Vereinbarkeit des PSPP-Beschlusses mit Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung

Auch nach Auffassung des BVerfG bestehen Zweifel, ob der PSPP-Beschluss mit dem Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung vereinbar ist. Art. 123 Abs. 1 AEUV verbiete es der EZB und den Zentralbanken der Mitgliedstaaten, Schuldtitel unmittelbar von Einrichtungen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten zu erwerben. Auch Ankäufe am Sekundärmarkt dürften nicht eingesetzt werden, um das mit Art. 123 AEUV verfolgte Ziel zu umgehen. Ein Programm, das den Ankauf von Staatsanleihen am Sekundärmarkt zum Gegenstand hat, müsse daher mit hinreichenden Garantien versehen sein, um eine Beachtung des Verbots monetärer Staatsfinanzierung wirksam zu gewährleisten. Das BVerfG geht davon aus, dass der EuGH die von ihm herausgestellten, den Grundsatzbeschluss über das OMT-Programm vom 06.09.2012 in seiner Reichweite einschränkenden Konditionen als rechtsverbindliche Kriterien ansieht, deren Missachtung auch in Bezug auf andere Programme, die den Ankauf von Staatsanleihen zum Gegenstand haben, einen Kompetenzverstoß darstellte.

Mehrere Kriterien sprechen für Verstoß des Beschlusses gegen EU-Recht

Das PSPP betreffe Anleihen von Staaten, staatlichen Unternehmen und anderen staatlichen Einrichtungen sowie von europäischen Institutionen. Diese Anleihen würden zwar ausschließlich auf dem Sekundärmarkt erworben, betonte das BVerfG. Für einen Verstoß des PSPP-Beschlusses gegen Art. 123 AEUV spreche jedoch, dass Einzelheiten der Ankäufe in einer Art und Weise angekündigt würden, die auf den Märkten die faktische Gewissheit begründen könnten, dass das Eurosystem emittierte Staatsanleihen auch erwerben wird, dass die Einhaltung bestimmter Mindestfristen zwischen der Ausgabe eines Schuldtitels auf dem Primärmarkt und seinem Ankauf auf dem Sekundärmarkt nicht nachprüfbar ist, dass erworbene Anleihen bislang durchwegs bis zur Endfälligkeit gehalten werden und dass darüber hinaus Anleihen erworben werden, die von vornherein eine negative Rendite aufweisen.

Mandat der EZB möglicherweise überschritten

Der PSPP-Beschluss könnte darüber hinaus vom Mandat der EZB nicht gedeckt sein, so das BVerfG. Die Währungspolitik sei nach Wortlaut, Systematik und Zielsetzung der Verträge insbesondere von der primär den Mitgliedstaaten zustehenden Wirtschaftspolitik abzugrenzen. Dabei komme es auf die objektiv zu bestimmende Zielsetzung einer Maßnahme, die zur Erreichung dieses Ziels gewählten Mittel sowie ihre Verbindung zu anderen Regelungen an. Aus Sicht des BVerfG könnte der PSPP-Beschluss sich auf der Grundlage einer Gesamtschau der maßgeblichen Abgrenzungskriterien nicht mehr als währungspolitische, sondern als überwiegend wirtschaftspolitische Maßnahme darstellen. Zwar habe das PSPP eine erklärte währungspolitische Zielsetzung und bediene sich zur Verfolgung dieses Ziels geldpolitischer Mittel; jedoch seien die wirtschaftspolitischen Auswirkungen aufgrund des Volumens des PSPP und der damit verbundenen Voraussehbarkeit des Ankaufs von Staatsanleihen bereits unmittelbar im Programm selbst angelegt. Damit könnte sich das PSPP in Bezug auf die ihm zugrundeliegende währungspolitische Zielsetzung als unverhältnismäßig erweisen. Zudem würden die Beschlüsse, die die Grundlage des Programms bilden, eine nachvollziehbare Begründung vermissen lassen, die es erlauben würde, während des mehrere Jahre umfassenden Vollzugs der Beschlüsse die fortdauernde Erforderlichkeit des Programms laufend zu überprüfen.

Erfolg der Beschwerden von Risikoteilung abhängig

Ob auf der Basis der Risikoteilung zwischen der EZB und der Bundesbank das durch Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Budgetrecht des Deutschen Bundestages und dessen haushaltspolitische Gesamtverantwortung durch den PSPP-Beschluss oder seine Umsetzung im Hinblick auf mögliche Verluste der Bundesbank berührt werden können, sei derzeit nicht sicher absehbar. Eine unbegrenzte Risikoteilung innerhalb des Eurosystems und daraus resultierende Risiken für die Gewinn- und Verlustrechnung der nationalen Zentralbanken würde eine Verletzung der Verfassungsidentität im Sinne von Art. 79 Abs. 3 GG bedeuten, wenn sie eine Rekapitalisierung der nationalen Zentralbanken mit Haushaltsmitteln in einem Umfang erforderlich machen könnten, wie sie das BVerfG in seiner Rechtsprechung zu EFSF und ESM an die Zustimmung des Deutschen Bundestages gebunden hat. Für den Erfolg der Verfassungsbeschwerden komme es mithin darauf an, ob eine solche Risikoteilung nach dem Primärrecht ausgeschlossen werden kann.

Problematische unbegrenzte Risikoverteilung bei Ausfällen von Anleihen der Zentralregierungen

Die Beschlussfassung des EZB-Rats über Art und Umfang der Risikoteilung zwischen den Mitgliedern des Europäischen Systems der Zentralbanken sei primärrechtlich kaum determiniert, monierte das BVerfG. Das könnte eine Änderung der Regelungen zur Risikoteilung innerhalb des Eurosystems durch den EZB-Rat ermöglichen, aus der sich Risiken für die Gewinn- und Verlustrechnung der nationalen Zentralbanken und darüber hinaus für die haushaltspolitische Gesamtverantwortung der nationalen Parlamente ergeben könnten. Vor diesem Hintergrund stelle sich die Frage, ob eine unbegrenzte Risikoverteilung bei Ausfällen von Anleihen der Zentralregierungen und ihnen gleich gestellter Emittenten zwischen den nationalen Zentralbanken des Eurosystems gegen Art. 123 und Art. 125 AEUV sowie gegen Art. 4 Abs. 2 EUV (in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG) verstieße.

BVerfG, Beschluss vom 18.07.2017 - 2 BvR 859/15

Redaktion beck-aktuell, 16. August 2017.