BVerfG weist Befangenheitsantrag in Verfahren zu Bundesnotbremse zurück
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Das Bundesverfassungsgericht hat ein Ablehnungsgesuch gegen den Präsidenten Harbarth und die Richterin Baer in einem Verfahren zur Corona-Notbremse zurückgewiesen. Die wegen des bei einem Treffen zwischen der Bundesregierung und dem BVerfG erörterten Themas "Entscheidung unter Unsicherheiten" erhobenen Befangenheitsvorwürfe seien unbegründet.

Befangenheitsvorwürfe wegen Themenauswahl und Vortrag bei Treffen mit Regierung

Das Ablehnungsgesuch hatte laut "Welt am Sonntag" der Berliner Anwalt Niko Härting gestellt, der nach eigenen Angaben ein Verfahren für Abgeordnete der Freien Wähler vor dem Verfassungsgericht führt. Gegenstand des Hauptsacheverfahrens sind die mit Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite eingeführten Ausgangsbeschränkungen nach § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG. Die Besorgnis der Befangenheit von Präsident Harbarth ergebe sich unter anderem aus dessen Einflussnahme auf die Auswahl der bei einem Treffen der Bundesregierung mit dem BVerfG am 30.06.2021 erörterten Themen ("Entscheidung unter Unsicherheiten") sowie aus der in der Pressemitteilung Nr. 78 des BVerfG vom 20.08.2021 erfolgten Ankündigung, in den Verfahren 1 BvR 781/21 und andere nach vorläufiger Einschätzung ohne mündliche Verhandlung im Beschlussweg entscheiden zu wollen. Härtling schrieb Ende September auf Twitter, Harbarth habe Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) Gelegenheit gegeben, die Bundes-Notbremse zu erläutern. Harbarth habe sich auch in einem Interview gegenüber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ) zur Corona-Krise in einer die Besorgnis seiner Befangenheit zusätzlich begründenden Weise geäußert. Bei Richterin Baer bestehe ebenfalls die Besorgnis der Befangenheit, weil sie bei dem genannten Treffen mit der Bundesregierung einen Vortrag zu dem Thema "Entscheidung unter Unsicherheiten" gehalten habe. Die Beschwerdeführenden müssten davon ausgehen, dass die abgelehnte Richterin sich zu im vorliegenden Verfahren bedeutsamen Sach- und Rechtsfragen geäußert habe.

Befangenheit wegen Gedankenaustauschs mit Regierung völlig fernliegend

Das BVerfG hat dem Ablehnungsgesuch insgesamt den Erfolg versagt. Ein Teil der von den Beschwerdeführenden für die Besorgnis der Befangenheit von Präsident Harbarth angeführten Gründe seien dazu gänzlich ungeeignet. Treffen zum Gedanken- und Erfahrungsaustausch zwischen dem BVerfG und der Bundesregierung als solche, damit auch das hier fragliche Treffen vom 30.06.2021, seien ein zur Begründung der Besorgnis der Befangenheit gänzlich ungeeigneter Grund. Gleiches gelte für die in der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 78 vom 20.08.2021 enthaltene bloße Mitteilung einer vorläufigen Einschätzung des Senats zur Frage der Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

Auch Interview-Inhalt lässt keine Befangenheit Harbarths besorgen

Auch der Inhalt des Interviews von Präsident Harbarth in der "FAZ" sei zur Begründung der Besorgnis der Befangenheit gänzlich ungeeignet. Nach dem eindeutigen objektiven Erklärungswert der fraglichen Äußerung in dem Interview habe der abgelehnte Richter eine allgemein gehaltene Einschätzung der durch das Coronavirus SARS-CoV-2 verursachten Lage in Deutschland im Vergleich zu nicht im Einzelnen benannten anderen Staaten geäußert. Bewertungen der von den verschiedenen zuständigen Gesetz- und Verordnungsgeber ergriffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus enthalte die von den Beschwerdeführenden vorgetragene Passage des Interviews nicht. 

Themenauswahl ohne inhaltliche Positionierung unbeachtlich für Befangenheit

Der Antrag sei jedenfalls unbegründet. Ausweislich der dienstlichen Stellungnahme Präsident Harbarths sei das Thema "Entscheidung unter Unsicherheiten" für einen Gedanken- und Erfahrungsaustausch zwischen Verfassungsorganen unter seiner Mitwirkung ausgewählt worden. Er habe es insbesondere deshalb für geeignet gehalten, weil es abstrakte und zeitlose Fragestellungen betreffe und es sich auch ohne konkreten Bezug zu anhängigen Verfahren erörtern lasse. Die Beteiligung von Präsident Harbarth an der Auswahl des Themas "Entscheidung unter Unsicherheiten“ vermöge den Anschein seiner fehlenden Unvoreingenommenheit nicht zu begründen. Die Festlegung eines Themas für einen Gedanken- und Erfahrungsaustausch zwischen BVerfG und Bundesregierung als solche ohne inhaltliche Positionierung, wie damit rechtlich umzugehen ist, begründet grundsätzlich keinen "bösen Schein" einer möglicherweise fehlenden Unvoreingenommenheit.

Thema betrifft übergreifende Fragestellungen

Das gilt laut BVerfG auch für das hier gewählte Thema "Entscheidung unter Unsicherheiten". Die mit dem Thema verbundenen Rechtsfragen zu den Kontrollmaßstäben des BVerfG unter den Bedingungen tatsächlicher Unsicherheiten seien vielfältig und stellen beziehungsweise stellten sich in zahlreichen Verfahren, die das BVerfG bereits entschieden habe und noch zu entscheiden haben werde. Der Senat weist insoweit unter anderem aus seiner jüngsten Rechtsprechung auf rechtliche Ausführungen zum Klimawandel und zur Zinsentwicklung hin. Am übergreifenden Charakter der Fragestellung ändere auch die im Vermerk der Bundesregierung festgehaltene Themenbeschreibung nichts. Denn es handelt sich insoweit lediglich um ebenso abstrakt formulierte Unterthemen, die gerade die vielfältigen mit dem Thema verbundenen Rechtsfragen aufgreifen.

Behaupteter Zweck der Themenauswahl nicht belegt

Dass das Thema gerade zu dem Zweck vorgeschlagen worden sei, Mitgliedern der Bundesregierung die Möglichkeit zu geben, sich zu tatsächlichen und rechtlichen Aspekten konkret anhängiger Verfahren zu äußern, stelle eine bloße Behauptung dar, für die es keine tatsächlichen Anhaltspunkte gebe und die bei vernünftiger Betrachtung nicht naheliege, unterstreicht das BVerfG. Im Übrigen habe sich die Ministerin ausweislich des von den Beschwerdeführenden selbst vorgelegten Redemanuskripts in ihrem achtminütigen Impulsvortrag gerade nicht zu konkret anhängigen Verfahren geäußert. Ungeachtet dessen wäre der sachliche Gehalt ihres konkreten Vortrags von vornherein nicht geeignet, eine Grundlage für einen Rückschluss zu bieten, Präsident Harbarth habe das Thema mit ausgewählt, um der Bundesregierung Äußerungen zu einem anhängigen Verfahren zu ermöglichen.

Fall Baer: Allgemeine Rechtsausführungen für sich kein Grund für Befangenheit

Das gegen die Richterin Baer gerichtete Ablehnungsgesuch sei gleichfalls teilweise bereits gänzlich ungeeignet, die Besorgnis der Befangenheit der Richterin zu begründen und im Übrigen jedenfalls unbegründet, so das BVerfG weiter. Wie sich aus der dienstlichen Stellungnahme der abgelehnten Richterin ergebe, seien Gegenstand ihres Vortrags allein abstrakte Überlegungen dazu gewesen, dass Gerichte mit der Dynamik und Komplexität von Wissen anders umgehen müssen als Legislative und Exekutive mit ihrer je eigenen Handlungsrationalität. Dies kann laut BVerfG keine Besorgnis der Befangenheit der Richterin begründen. Dass abstrakte rechtliche Überlegungen auch in einem konkreten Verfahren zur Anwendung gelangen könnten, sei ihnen immanent. Nicht anders als bei in wissenschaftlichen Beiträgen oder sonst geäußerten Rechtsauffassungen könnten allgemein gehaltene Rechtsausführungen allenfalls dann zur Besorgnis der Befangenheit führen, wenn weitere Umstände in der Person der abgelehnten Richterin hinzuträten, aus denen auf eine fehlende Unvoreingenommenheit und insbesondere eine Vorfestlegung zu entscheidungsrelevanten Rechtsfragen geschlossen werden könnte. Dies sei nicht der Fall.

BVerfG, Beschluss vom 12.10.2021 - 1 BvR 781/21

Redaktion beck-aktuell, 18. Oktober 2021 (ergänzt durch Material der dpa).