BVerfG: Anwohner und Anliegergemeinden scheitern mit Verfassungsbeschwerden gegen BER-Nachtflugregelung

Mehrere Anwohner und Anliegergemeinden sind mit ihren Verfassungsbeschwerden gegen die Nachtflugregelung am künftigen Hauptstadtflughafen Berlin-Brandenburg (BER) gescheitert. Das Bundesverfassungsgericht hat die Beschwerden mit Beschlüssen vom 02.07.2018 nicht zur Entscheidung angenommen (Az.: 1 BvR 612/12, 1 BvR 682/12 und 1 BvR 847/12).

Nachtflugregelung am Hauptstadtflughafen Berlin-Brandenburg

Das Bundesverwaltungsgericht hatte die Planfeststellungsbehörde im März 2006 (BeckRS 2006, 2369) verpflichtet, über Einschränkungen des Nachtflugbetriebs am künftigen Flughafen Berlin-Brandenburg erneut zu entscheiden und den ursprünglichen Planfeststellungsbeschluss teilweise aufgehoben. Durch Planergänzungsbeschluss vom 20.10.2009 erfolgte die aufgetragene Neuregelung. Die nunmehr dort getroffene Nachtflugregelung für den künftigen Flughafen Berlin Brandenburg hält die Nachtkernzeit 00:00 Uhr bis 05:00 Uhr grundsätzlich von Flugaktivitäten frei und öffnet die Nachtrandstunden von 22:00 Uhr bis 23:30 Uhr sowie von 05:30 Uhr bis 06:00 Uhr weitgehend für den Flugbetrieb. In der Nachtkernzeit dürfen nur besonders geregelte Flüge stattfinden. In den halben Stunden unmittelbar vor (23:30 Uhr bis 00:00 Uhr) und nach (05:00 Uhr bis 05:30 Uhr) der Nachtkernzeit sind großzügigere Ausnahmen vom Nachtflugverbot zugelassen. Das BVerwG wies die Klagen der Beschwerdeführer gegen die neue Nachtflugregelung mit den von den Verfassungsbeschwerden angegriffenen Entscheidungen ab. 

Mehrere Verfassungsbeschwerden von Anwohnern und Anliegergemeinden

Die Beschwerdeführer im Verfahren 1 BvR 612/12 und 1 BvR 847/12 sind Anwohner des Flughafens. Im Verfahren 1 BvR 612/12 rügten sie eine Verletzung ihrer Rechte auf Gesundheit und rechtliches Gehör. Das BVerwG habe wesentlichen Vortrag der Beschwerdeführer zur Fehlerhaftigkeit eines Gutachtens und zur Abwägung der Lärmschutzinteressen übergangen. Zudem sei die Bedeutung des Schutzguts "Gesundheit" im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Belange fehlgewichtet worden. Die vier Beschwerdeführerinnen im Verfahren 1 BvR 682/12 sind unmittelbare Anliegergemeinden des Flughafens. Sie sahen sich in ihrem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, weil wesentlicher Vortrag zur Unverwertbarkeit eines Gutachtens durch das BVerwG nicht berücksichtigt worden sei. Zudem rügten sie eine Verletzung ihrer Rechte auf effektiven Rechtsschutz und ein faires Verfahren. 

BVerfG: Staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gegenüber Anwohnern nicht verletzt

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen. Im Verfahren 1 BvR 612/12 verletze das angegriffene BVerwG-Urteil die Beschwerdeführer nicht in Art. 103 Abs. 1 GG. Das BVerwG habe das Vorbringen der Beschwerdeführer nicht übergangen, sondern lediglich anders gewürdigt. Das Urteil verletze sie auch nicht in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG erfordere entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer nicht, die vom BVerfG bei der Rüge der Verletzung staatlicher Schutzpflichten in ständiger Rechtsprechung angewandten Maßstäbe bezüglich neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse zu verändern. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse seien danach in der Regel erst dann einer Planungs- oder Zulassungsentscheidung zugrunde zu legen, wenn sie sich in der wissenschaftlichen Diskussion durchgesetzt haben. Durch die sich aus der Schutzpflicht des Staates für Leben und Gesundheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ergebende Überprüfungs- und Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers werde zugleich gesichert, dass das Risiko von zunächst noch bestehenden Ungewissheiten in der Wissenschaft nicht einseitig dauerhaft Betroffenen auferlegt wird. 

Planfeststellungsbehörde musste keine neueren Lärmforschungserkenntnisse mehr einholen 

Laut BVerfG trägt die Rechtslage dem im Hinblick auf den Schutz vor Fluglärm mittlerweile deutlicher als bisher dadurch Rechnung, dass nach § 2 Abs. 3 FluglärmG in der Fassung des Jahres 2007 die Bundesregierung verpflichtet werde, dem Deutschen Bundestag spätestens im Jahre 2017 und spätestens nach Ablauf von jeweils weiteren zehn Jahren Bericht über die Überprüfung der in § 2 Abs. 2 FluglärmG genannten Lärmgrenzwerte unter Berücksichtigung des Standes der Lärmwirkungsforschung und der Luftfahrttechnik zu erstatten. Daraus habe das BVerwG in der angegriffenen Entscheidung in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise geschlossen, dass angesichts der in § 2 Abs. 2 FluglärmG normativ festgelegten fachplanerischen Zumutbarkeitsschwelle neuere Erkenntnisse der Lärmmedizin und der Lärmwirkungsforschung durch die Planfeststellungsbehörde zur Bestimmung dieser Grenze nicht mehr eingeholt zu werden brauchten. 

Abzuwägender Belang "Nachtflugbedarf" korrekt ermittelt

Soweit die Beschwerdeführer rügten, die abzuwägenden Belange seien bereits fehlerhaft ermittelt worden, liege ebenfalls keine Verletzung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG vor, so das BVerfG weiter. Bei der Feststellung des Bedarfs an Nachtflugverkehr sei im Planergänzungsbeschluss nach verschiedenen Verkehrssegmenten zu unterschiedlichen Zeiten differenziert worden. Diese Feststellung beruhe auf Prognosen, bei deren Nachprüfung das BVerfG sich darauf beschränken müsse, ob diese Einschätzungen und Entscheidungen offensichtlich fehlerhaft oder eindeutig widerlegbar sind oder der verfassungsrechtlichen Ordnung widersprechen. Ausgehend hiervon habe das BVerwG in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise dargelegt, weshalb es die erstellten Wachstumsprognosen für die einzelnen Verkehrssegmente und den darauf prognostizierten Nachtflugbedarf für plausibel halte. 

Belang "Schutz der Nachtruhe" fehlerfrei gewichtet

Dem BVerfG zufolge sind die Beschwerdeführer auch nicht durch die Gewichtung der widerstreitenden Belange beim Fluglärmschutz in der Nachtzeit verletzt. Das BVerwG habe das Gewicht der Nachtkernzeit erkannt und die besondere Bedeutung der Nachtruhe in der Nachtkernzeit betont sowie eine Gesamtbetrachtung der Lärmbelastung in der Summe vorgenommen, die durch die zugelassenen Ausnahmen entsteht. Auch für die Nachtrandzeiten sei bei einer Gesamtbetrachtung der Nachtzeit entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer keine aus verfassungsrechtlicher Sicht zu beanstandende Fehlgewichtung des Belangs "Schutz der Nachtruhe" durch das BVerwG erfolgt. 

Abwägung in Bezug auf Nachtkernzeit fehlerfrei

Nach Ansicht des BVerfG werden die Beschwerdeführer schließlich weder durch die Abwägung im Planergänzungsbeschluss als solche noch durch das BVerwG-Urteil, wonach die Abwägung der einzelnen widerstreitenden Belange im Planergänzungsbeschluss bei der Festlegung der Nachtflugregelung rechtsfehlerfrei sei, in ihren Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt. Insbesondere halte die Regelung für die Nachtkernzeit dem eingeschränkten Prüfungsmaßstab des BVerfG bei Planungsentscheidungen stand, da die Einschätzungen und Entscheidungen weder offensichtlich fehlerhaft oder eindeutig widerlegt sind noch der verfassungsrechtlichen Ordnung widersprechen und zudem der erhebliche Sachverhalt zutreffend ermittelt und die beteiligten Belange und Interessen umfassend und in nachvollziehbarer Weise abgewogen wurden. Eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts sei nicht erkennbar. 

Abwägung auch in Bezug auf Nachtrandzeit im Ergebnis nicht zu beanstanden

Laut BVerfG gilt dies im Ergebnis auch für die Nachtrandzeit. Das BVerwG habe es für den Flughafen Berlin Brandenburg für vertretbar gehalten, im Hinblick auf den weitgehenden Schutz der Nachtruhe zwischen 23:30 Uhr und 05:30 Uhr Flugverkehr bis 23:30 Uhr und ab 05:30 Uhr grundsätzlich unbegrenzt zuzulassen und die Lärmschutzbelange der Anwohner insoweit weitgehend hinter den gewichtigen Verkehrsinteressen zur Deckung des internationalen Luftverkehrsbedarfs am einzigen Verkehrsflughafen der Region zurücktreten zu lassen, habe aber betont, dass auch in der Zeit zwischen 22:00 Uhr und 23:30 Uhr und zwischen 05:00 Uhr und 05:30 Uhr "die Nacht nicht zum Tag" werden dürfe. Die Verhältnismäßigkeit sehe das BVerwG dabei nur gewahrt, wenn das Konzept der Planfeststellungsbehörde des Ab- und Anschwellens des Luftverkehrs in den Nachtrandstunden auf Dauer eingehalten werde. Das BVerfG sieht diese Erwägungen des BVerwG noch im Rahmen vertretbarer fachgerichtlicher Wertung. Sie würden das Gebot des Schutzes vor Fluglärm aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht grundsätzlich verkennen. 

Konzept des Ab- und Anschwellens aber zu beachten 

Das BVerfG betont, dass der hohen Bedeutung des verfassungsrechtlich abgesicherten Belangs des Schutzes vor Verkehrslärm für die erste Stunde der Nacht (22:00 Uhr bis 23:00 Uhr) allerdings nur Rechnung getragen werde, sofern - wie vom BVerwG auch ausdrücklich gefordert - die Belastung in dieser Stunde im Zusammenhang mit dem Konzept des Ab- und Anschwellens für die ganze Nachtzeit gesehen werde, die Nachtverkehrszahl im Zeitabschnitt danach durch die mengenmäßige Begrenzung das Abschwellen sichere und in dieser Stunde keine stärkere Belastung mit Fluglärm als in den Abendstunden auftrete und dies gegebenenfalls durch nachträgliche Auflagen und Begrenzungen umgesetzt werde. 

Anliegergemeinden weder in Anspruch auf rechtliches Gehör noch in Rechtsschutzgarantie verletzt 

Im Verfahren 1 BvR 682/12 hat das BVerfG eine Verletzung der Anliegergemeinden durch die angegriffenen BVerwG-Entscheidungen in ihren Rechten aus Art. 103 Abs. 1 GG verneint, da sich das BVerwG hinsichtlich aller für seine Entscheidung erheblichen Aspekte mit ihrem Vorbringen auseinandergesetzt habe. Ob sich die Beschwerdeführerinnen als Gemeinden hier ausnahmsweise auf Art. 19 Abs. 4 GG berufen könnten, könne offen bleiben. Art. 19 Abs. 4 GG werde durch das angegriffene Urteil nicht verletzt. Planung habe einen finalen und keinen konditionalen Charakter. Dies finde im eingeschränkten gerichtlichen Prüfprogramm seinen Niederschlag, führe aber nicht zu einer unangemessenen Rechtsschutzverkürzung. 

Recht auf faires Verfahren jedenfalls auch nicht verletzt

Es könne schließlich auch offen bleiben, ob die Rüge der Beschwerdeführerinnen, es liege ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens vor, der Rechtsschutzgarantie zugeordnet und hier von ihnen ausnahmsweise als Gemeinden geltend gemacht werden könnte, denn ein solcher Verstoß liege jedenfalls nicht vor. Den Beschwerdeführerinnen sei bei ihrer Rechtswahrnehmung durch die Gestaltung der mündlichen Verhandlung nichts abgeschnitten worden, was nicht schon Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens gewesen sei. 

Verfassungsbeschwerde 1 BvR 847/12 unzulässig

Im Verfahren 1 BvR 847/12 hat das BVerfG die Verfassungsbeschwerde bereits für unzulässig erachtet, da für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Entscheidung erforderliche Unterlagen von den Beschwerdeführern nicht vorgelegt worden seien und es an einer ausreichenden Auseinandersetzung mit den angegriffenen Entscheidungen und der zugrunde liegenden Rechtslage fehle.

BVerfG, Beschluss vom 02.07.2018 - 1 BvR 612/12

Redaktion beck-aktuell, 31. Juli 2018.

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