BVerfG: AGH muss über nach grober Beleidigung eines Ausbilders versagte Rechtsanwaltszulassung neu entscheiden

Das Bundesverfassungsgericht hat der Verfassungsbeschwerde einer Assessorin stattgegeben, die im Referendariat ihren Ausbilder grob beleidigt hatte und deshalb wegen "Unwürdigkeit" nicht zur Rechtsanwaltschaft zugelassen worden ist. Die Rechtsanwaltszulassung dürfe in der Regel nur dann wegen "Unwürdigkeit" versagt werden, wenn das Fehlverhalten auch geeignet ist, das Vertrauen in die Integrität der Rechtsanwaltschaft im Interesse einer funktionierenden Rechtspflege zu beeinträchtigen, und diese Beeinträchtigung die grundrechtlichen Belange des Antragstellers überwiegt, so das BVerfG. Wegen mangelhafter Abwägung muss der Anwaltsgerichtshof nun erneut entscheiden (Beschluss vom 22.10.2017, Az.: 1 BvR 1822/16).

Beschwerdeführerin wegen Beleidigung ihres Ausbilders verurteilt

Während des juristischen Referendariats der Beschwerdeführerin war es zwischen ihr und ihrem Ausbilder in der staatsanwaltschaftlichen Station mehrfach zu Auseinandersetzungen gekommen. Der ausbildende Staatsanwalt beurteilte die Beschwerdeführerin schließlich mit der Note "befriedigend". Dies empfand die Beschwerdeführerin als ungerecht. Sie wandte sich nach Erhalt der Beurteilung im Februar 2011 per E-Mail an ihren Ausbilder und belegte diesen mit verschiedenen beleidigenden Äußerungen. In dem sich anschließenden Ermittlungsverfahren wandte sich die Beschwerdeführerin im April 2011 per E-Mail an die zuständige Oberstaatsanwältin und brachte Zweifel an deren Rechtstreue und intellektuellen Fähigkeiten zum Ausdruck. Die Beschwerdeführerin wurde in der Folge vom Amtsgericht wegen Beleidigung des Staatsanwalts rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt.

Zulassung zur Rechtsanwaltschaft wegen Unwürdigkeit versagt

Im August 2014 beantragte sie ihre Zulassung zur Rechtsanwaltschaft. Die Rechtsanwaltskammer lehnte diesen Antrag ab, weil die Beschwerdeführerin sich eines Verhaltens schuldig gemacht habe, das sie unwürdig erscheinen lasse, den Beruf einer Rechtsanwältin ordnungsgemäß auszuüben. Die gegen den Bescheid gerichtete Klage wies der Anwaltsgerichtshof ab. Auch der gegen das Urteil gerichtete Antrag auf Zulassung der Berufung blieb vor dem Bundesgerichtshof ohne Erfolg. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügte die Beschwerdeführerin die Verletzung ihrer Grundrechte insbesondere aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG.

BVerfG: Schwerwiegender Eingriff in Berufswahlfreiheit

Das BVerfG hat der Verfassungsbeschwerde stattgegeben und die Sache an den Anwaltsgerichtshof zurückverwiesen. Die angegriffenen Entscheidungen der Rechtsanwaltskammer und des Anwaltsgerichtshofs verletzten die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG. Das BVerfG unterstreicht, dass die Versagung der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft einen schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht auf Freiheit der Berufswahl bedeute. Als jedenfalls vorübergehendes Berufsverbot stelle sie eine subjektive Berufszugangsregelung dar, die einer ihrerseits verfassungsgemäßen gesetzlichen Grundlage bedürfe und nur zum Schutz eines besonders wichtigen Gemeinschaftsguts und unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit statthaft sei.

Versagungsgrund der Unwürdigkeit einschränkend auszulegen

Der Versagungsgrund der Unwürdigkeit gemäß § 7 Nr. 5 BRAO sei im Lichte der Berufsfreiheit einschränkend auszulegen. Ein Bewerber könne nicht allein deswegen als unwürdig angesehen werden, weil sein Verhalten im beruflichen Umfeld oder im gesellschaftlichen Bereich auf Missfallen stößt. Erforderlich sei hierfür in der Regel vielmehr, dass das von ihm gezeigte Fehlverhalten auch geeignet ist, das Vertrauen in die Integrität der Rechtsanwaltschaft im Interesse einer funktionierenden Rechtspflege zu beeinträchtigen und dass diese Beeinträchtigung seine grundrechtlichen Belange überwiegt.

Einzelfallbezogene Abwägung fehlt

Laut BVerfG genügen die angegriffenen Entscheidungen diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht uneingeschränkt. Zwar hätten die Rechtsanwaltskammer und der Anwaltsgerichtshof einen zutreffenden Abwägungsmaßstab zugrunde gelegt. Jedoch mangle es an einer diesen Anforderungen entsprechenden einzelfallbezogenen Abwägung. Keinen Bedenken begegne dabei allerdings die Würdigung der konkret herangezogenen für und gegen die Beschwerdeführerin sprechenden Umstände zur Beurteilung ihrer Gesamtpersönlichkeit.

Fortbestehende Unrechtseinsicht zu Recht zu Lasten der Beschwerdeführerin berücksichtigt

Der Beschwerdeführerin habe insbesondere ihre fehlende Unrechtseinsicht vorgeworfen und entgegengehalten werden dürfen, so das BVerfG. Zwar könne ein festgestelltes Fehlverhalten nach einer mehr oder minder langen Zeit durch Wohlverhalten oder andere Umstände derart an Bedeutung verlieren, dass es der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft nicht mehr entgegensteht. Eine weiterhin bestehende Uneinsichtigkeit und Rechtfertigung der Tat könne sich aber gleichwohl zu Lasten eines Bewerbers auswirken, weil es sich dabei um einen für die zu erstellende Prognoseentscheidung maßgeblichen Aspekt handelt.

Würdigung der Persönlichkeit aber nicht ausreichend

Beide Entscheidungen ließen jedoch eine Abwägung der grundrechtlichen Belange der Beschwerdeführerin mit den ihrer Zulassung zur Rechtsanwaltschaft entgegenstehenden Gemeinwohlbelangen nicht erkennen. Allein die vorgenommene Würdigung der Persönlichkeit der Beschwerdeführerin mit der nicht näher begründeten Schlussfolgerung, dass sie für den Anwaltsberuf nicht tragbar sei, werde dem nicht gerecht.

Prognose hinsichtlich Beeinträchtigung der Interessen der Öffentlichkeit fehlt

Das BVerfG moniert, dass die Entscheidung des Anwaltsgerichtshofs insoweit bereits eine Prognoseentscheidung im Hinblick auf die Beeinträchtigung der einer Zulassung entgegenstehenden Interessen der Öffentlichkeit vermissen lasse. Es hätte insbesondere näher ausgeführt werden müssen, dass und warum davon auszugehen sei, dass die Beschwerdeführerin im Fall ihrer Zulassung als Rechtsanwältin in einer Art und Weise auftreten würde, die das Vertrauen in die Integrität der Rechtsanwaltschaft insbesondere im Interesse einer funktionierenden Rechtspflege beinträchtigen könnte, sei es, dass Gerichte Rechtsstreitigkeiten nicht mehr zielgerichtet und zweckmäßig betreiben oder aber die Rechtsuchenden eine vertrauenswürdige Rechtsberatung und Vertretung im Rechtsstreit nicht erlangen könnten. Ein gegenüber den Interessen der Beschwerdeführerin überwiegendes Interesse der Öffentlichkeit habe ohne weitere entsprechende Feststellungen auch nicht auf der Hand gelegen, so dass sich dahingehende Ausführungen hätten erübrigen können.

BVerfG, Beschluss vom 22.10.2017 - 1 BvR 1822/16

Redaktion beck-aktuell, 17. November 2017.