AfD-Eilanträge zur Vizepräsidenten-Wahl im Bundestag erfolglos
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Die AfD ist in dem Streit um einen Vizepräsidenten-Posten im Bundestag mit zwei Eilanträgen gescheitert. Das Bundesverfassungsgericht erachtete sowohl den Antrag der AfD-Fraktion als auch den eines AfD-Abgeordneten im Bundestag als unzulässig. Die Anträge seien jeweils auf Rechtsfolgen gerichtet, die im Organstreitverfahren grundsätzlich nicht erreicht werden könnten. Über die Hauptsachen ist noch nicht entschieden. 

Kein AfD-Kandidat zum Stellvertreter des Bundestagspräsidenten gewählt

In seiner konstituierenden Sitzung am 24.10.2017 beschloss der Bundestag mit den Stimmen der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der AfD-Abgeordneten die Weitergeltung von Geschäftsordnungsrecht, hierunter auch die Vorschrift zur Wahl des Bundestagspräsidenten und seiner Stellvertreter (sogenannte Vizepräsidenten). Auf Antrag aller Fraktionen legte der Bundestag außerdem die Zahl der Stellvertreterinnen und Stellvertreter des Bundestagspräsidenten auf sechs fest. Für alle Fraktionen – bis auf AfD – wurden in der konstituierenden Sitzung im ersten Wahlgang die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten zu Stellvertreterinnen und Stellvertretern des Bundestagspräsidenten gewählt. Der von der AfD zur Wahl vorgeschlagene Abgeordnete erhielt in keinem der drei Wahlgänge die erforderliche Mehrheit. Im weiteren Verlauf der Legislaturperiode schlug die AfD zwischen November 2018 und Januar 2020 für die Wahl vier weitere Abgeordnete vor, die ebenfalls in keinem der jeweils durchgeführten drei Wahlgänge die erforderliche Mehrheit erzielten. Im November 2020 und im Juni 2021 stellte die AfD einen weiteren ihrer Abgeordneten als Stellvertreter des Bundestagspräsidenten zur Wahl, der im ersten und zweiten Wahlgang nicht die erforderliche Mehrheit auf sich vereinen konnte.

AfD begehrt prozedurale Vorkehrungen zum Schutz vor Nichtwahl

Mit ihrem Hauptantrag begehrt die AfD-Fraktion die Feststellung, dass der Antragsgegner sie in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG sowie in ihrem Recht auf faire und loyale Anwendung der Geschäftsordnung und den Grundsatz der Organtreue verletzt hat. Alle von ihr vorgeschlagenen Abgeordneten seien nicht gewählt worden, ohne dass der Antragsgegner zuvor prozedurale Vorkehrungen zum Schutz vor einer Nichtwahl aus sachwidrigen Gründen geschaffen habe. Mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt die AfD die Verpflichtung des Antragsgegners, vorläufig entsprechende verfahrensmäßige Vorkehrungen für das Wahlverfahren zu treffen.

BVerfG: Antrag der AfD-Fraktion ist unzulässig

Das BVerfG hat den Eilantrag für unzulässig befunden. Er sei auf Rechtsfolgen gerichtet, die im Organstreitverfahren grundsätzlich nicht erreicht werden könnten. In der Hauptsache könne die Antragstellerin allenfalls die Feststellung einer Verletzung ihrer Rechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG durch die Zurückweisung ihrer Wahlvorschläge bei den zurückliegenden Wahlen, nicht aber die Verpflichtung des Antragsgegners zu verfahrensmäßigen Vorkehrungen für künftige Wahlen eines Vizepräsidenten oder einer Vizepräsidentin auf Vorschlag der Antragstellerin erreichen. Denn ihr weit formulierter Eilantrag sei auf die vorläufige allgemeine Etablierung von Verfahrensregelungen gerichtet, die auch bei etwaig erforderlichen Neubesetzungen von Vizepräsidentinnen beziehungsweise Vizepräsidenten aus den Reihen der anderen Fraktionen anwendbar wären. Die Antragstellerin begehre daher im Rahmen eines Eilverfahrens die Schaffung neuen, allgemeingültigen Verfahrensrechts. Der einstweilige Rechtsschutz ziele jedoch nur auf eine vorläufige Sicherung der geltend gemachten organschaftlichen Rechte der Antragstellerin.

Kein dringender Regelungsbedarf ersichtlich

Darüber hinaus fehlt es laut BVerfG an einer substantiierten Darlegung dazu, dass der Antragstellerin ein schwerer Nachteil droht und der Erlass einer einstweiligen Anordnung dringend geboten ist. Für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sei zudem im vorliegenden Verfahren kein dringender Regelungsbedarf ersichtlich. Auch die von der AfD-Fraktion geforderten "geeigneten verfahrensmäßigen Vorkehrungen" verschafften ihr nicht das der Sache nach letztlich begehrte Amt einer Vizepräsidentin oder eines Vizepräsidenten, sondern gäben lediglich einen neuen Verfahrensmodus vor. Darüber hinaus stellte das BVerfG fest, dass zwar die AfD bereits seit Beginn der Wahlperiode im Oktober 2017 durch die Nichtwahl ihres ersten Kandidaten und auch durch die in den Jahren 2018 bis 2020 folgenden Nichtwahlen weiterer Kandidatinnen und Kandidaten in ihrem Recht auf Schaffung verfahrensmäßiger Vorkehrungen verletzt sei, den mit Einlegung des Organstreitverfahrens verbundenen Eilantrag jedoch erst im November 2020 gestellt habe.

Hat einzelner Abgeordneter Vorschlagsrecht für Vizepräsidentenwahl?

Der zweite Antrag betrifft die Frage, ob Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG einem Abgeordneten das Recht verleiht, jedenfalls ab dem zweiten Wahlgang einen eigenen Kandidaten für das Amt eines Stellvertreters des Bundestagspräsidenten vorzuschlagen und über diesen Vorschlag abstimmen zu lassen. Der Antragsteller ist Mitglied des Deutschen Bundestages und gehört der AfD-Fraktion an. In der Sitzung des Bundestages am 26.09.2019 erhielt – im ersten Wahlgang – der von der AfD-Fraktion vorgeschlagene Abgeordnete nicht die erforderliche Mehrheit. Für die Sitzung am 07.11.2019 wurde die Wahl eines Vertreters des Bundestagspräsidenten – als zweiten Wahlgang – erneut auf die Tagesordnung gesetzt. Die AfD-Fraktion schlug wiederum denselben Abgeordneten vor. Der Antragsteller kündigte dem Präsidenten des Bundestages schriftlich an, zudem einen anderen Abgeordneten zur Wahl vorschlagen zu wollen. In der Sitzung des Bundestages wurde der Antrag von der sitzungsleitenden Vizepräsidentin mit der Begründung als unzulässig zurückgewiesen, dass einem einzelnen Abgeordneten kein Vorschlagsrecht für die Wahl eines Vizepräsidenten zustehe.

Abgeordneter sieht sich in seinen Rechten verletzt

Der Antragsteller sieht sich durch die Zurückweisung seines Wahlvorschlags in seinem Recht auf gleiche Mitwirkungsbefugnis aller Abgeordneten gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt. Er begehrt, den streitigen Zustand vorläufig dahingehend zu regeln, dass "im Rahmen stattfindender Wahlen von Stellvertretern des Präsidenten die Wahlvorschläge von Abgeordneten des Deutschen Bundestages zuzulassen und zur Abstimmung zu stellen sind".

BVerfG: Vereitelung behaupteten Wahlvorschlagsrechts nicht ausreichend dargelegt

Das BVerfG erachtet auch den Antrag des AfD-Abgeordneten für unzulässig. Auch er sei auf Rechtsfolgen gerichtet, die im Organstreitverfahren grundsätzlich nicht erreicht werden könnten. Denn der Eilantrag des Antragstellers gehe über die Rechtswirkungen hinaus, die bei einem Erfolg in der Hauptsache bewirkt werden könnten. Er könnte in der Hauptsache allenfalls die Feststellung einer Verletzung seiner Beteiligungsrechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG erreichen, betont das BVerfG. Der Antragsteller lege auch nicht ausreichend dar, dass bei Nichterlass der einstweiligen Anordnung eine Vereitelung des behaupteten Wahlvorschlagsrechts durch den Antragsgegner droht. Er verweise zwar auf das bevorstehende Ende der laufenden Legislaturperiode, äußere sich aber nicht dazu, ob zu erwarten sei, dass im verbleibenden Rest der Legislaturperiode überhaupt weitere Durchgänge zur Wahl einer Bundestagsvizepräsidentin oder eines -vizepräsidenten auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages gesetzt und durchgeführt werden. Zudem setze sich der Antragsteller nicht ausreichend damit auseinander, dass der Organstreit auf den Schutz der verfassungsmäßigen Rechte des jeweiligen Antragstellers gerichtet sei. Daher könne auch der einstweilige Rechtsschutz nur auf die vorläufige Sicherung der geltend gemachten organschaftlichen Rechte des Antragstellers und nicht weiterer Mitglieder des Bundestages zielen, so die Verfassungsrichter.

Schwerwiegender Eingriff in Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages zu verhindern

Jedenfalls ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung laut BVerfG auch unbegründet, weil die Folgenabwägung zulasten des Antragstellers ausfalle. Denn erginge die vorliegend beantragte einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Vorenthaltung des Wahlvorschlagsrechts jedoch als verfassungswidrig, könnte der Antragsteller möglicherweise auch in künftigen Wahlgängen seine verfassungsrechtlichen Beteiligungsrechte nicht in vollem Umfang ausüben. Er wäre aber nicht gehindert, Wahlvorschläge auf andere Weise zu verfolgen. Wahlvorschläge könnten jedenfalls von der Fraktion des Antragstellers gemacht werden. Erginge die beantragte einstweilige Anordnung, erwiese sich jedoch, dass das in Rede stehende Wahlvorschlagsrecht nicht besteht oder der Wahlvorschlag in verfassungskonformer Weise abgelehnt wurde, bedeutete dies demgegenüber einen schwerwiegenden Eingriff in die Geschäftsordnungsautonomie des Deutschen Bundestages.

BVerfG sieht sich zur Zurückhaltung verpflichtet

Der mit dem Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundene Eingriff in die Geschäftsordnungsautonomie des Parlaments trete in seinem verfassungsrechtlichen Gewicht jedenfalls nicht hinter die vom Antragsteller geltend gemachten Mitwirkungsbefugnisse zurück, so das BVerfG. Selbst wenn man annähme, dass sich die jeweiligen Nachteile der abzuwägenden Folgenkonstellationen in etwa gleichgewichtig gegenüberstehen, verböte es die mit Blick auf die Gewaltenteilung notwendige Zurückhaltung des BVerfG, in den Prozess der parlamentarischen Willensbildung bei der Besetzung des eigenen Repräsentativ- und Leitungsorgans einzugreifen, bevor geklärt sei, welche Mitwirkungsbefugnisse dem einzelnen Abgeordneten insoweit zustehen beziehungsweise ob hier die Grenzen der Parlamentsautonomie überschritten seien.

BVerfG, Beschluss vom 07.07.2021 - 2 BvE 9/20

Redaktion beck-aktuell, 11. August 2021.