Die Beschlussfähigkeit des Bundestags hatte die AfD-Fraktion auch schon in mehreren Plenarsitzungen vor den beiden Nachtsitzungen im Juni und November 2019 bezweifelt, nachdem ihre Kandidaten für parlamentarische Posten, unter anderem als Vizepräsident, nicht gewählt worden waren.
In der 107. Sitzung im Juni 2019 erwiderte Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen), die sie als damalige Bundestagsvizepräsidentin leitete, auf das Bezweifeln der Beschlussfähigkeit, der Sitzungsvorstand habe miteinander diskutiert und sei der Meinung, dass die Beschlussfähigkeit gegeben sei. Mehrere Gesetzentwürfe wurden dann beschlossen, abgestimmt wurde ohne Zählung der Stimmen. Ein Eilantrag der AfD-Fraktion zur Verhinderung der Ausfertigung und Verkündigung der Gesetze durch den Bundespräsidenten scheiterte beim BVerfG.
In der 124. Sitzung im November 2019 entgegnete Hans-Peter Friedrich (CSU) als damaliger sitzungsleitender Vizepräsident: "Es sieht aber ganz gut aus. Also, wir sind im Präsidium der Meinung, dass die Beschlussfähigkeit gegeben ist". Auf einen anschließenden AfD-Antrag auf eine namentliche Abstimmung (§ 52 GO-BT) hin ließ der Vizepräsident zunächst über den Gesetzentwurf in zweiter Lesung durch Handzeichen abstimmen und in dritter Lesung dann namentlich. Das Ergebnis waren 133 abgegebene Stimmen, woraufhin der Vizepräsident die Beschlussunfähigkeit des Bundestages feststellte und die Sitzung aufhob.
AfD-Fraktion monierte Unterlassen des Hammelsprungs
Die AfD-Fraktion rügte unter anderem, dass die Vizepräsidentin bzw. der Vizepräsident keinen sogenannten Hammelsprung zur Zählung der Stimmen durchgeführt hatten. Nach § 45 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Bundestages (GO-BT) sind die Stimmen zu zählen, wenn vor Beginn einer Abstimmung die Beschlussfähigkeit von einer Fraktion oder von anwesenden 5% der Bundestagsmitglieder bezweifelt und auch vom Sitzungsvorstand nicht einmütig bejaht wird. Dafür wird ein sogenannter Hammelsprung durchgeführt (§ 51 Abs. 2 GO-BT), bei dem die Mitglieder des Bundestages den Sitzungssaal verlassen und durch eine von drei Türen den Saal wieder betreten. Je eine der Türen steht für eine Abstimmung mit "ja", "nein" oder "Enthaltung". Beim Passieren der gewählten Tür werden die Parlamentarier durchgezählt.
Die AfD-Fraktion sah durch das Unterlassen ihre verfassungsmäßigen Rechte verletzt. Außerdem warf sie den Mitgliedern des Bundestagspräsidiums vor, sie hätten eine geheime Vereinbarung getroffen, um künftige „Bezweiflungen der Beschlussunfähigkeit“ der AfD-Fraktion ins Leere laufen zu lassen, indem der Sitzungsvorstand die Beschlussfähigkeit einmütig bejahe. Auch dadurch sah sie ihre Rechte verletzt.
Verfristung, ungenügende Begründung
Die Organklage der AfD-Fraktion gegen den Bundestag, die Vizepräsidentin und den Vizepräsidenten sowie gegen das Präsidium hatte beim BVerfG keinen Erfolg, es hat sie als unzulässig verworfen (Beschluss vom 21.05.2025 - 2 BvE 3/20). Den ersten, die 107. Sitzung betreffenden Antrag sah das BVerfG bereits verfristet. Werde lediglich ein Einzelakt des mehrgliedrigen Normsetzungsverfahrens beanstandet, spiele die spätere Verkündung der Gesetze für den Fristlauf keine Rolle, unterstreicht das BVerfG dabei.
Den zweiten, die 124. Sitzung betreffenden Antrag moniert das BVerfG als nicht ausreichend begründet. Der Schilderung der Fraktion lasse sich nicht entnehmen, welche rechtserhebliche Maßnahme oder Unterlassung sie konkret beanstande. Sie lege nur dar, der Vizepräsident habe auf ihr Bezweifeln der Beschlussfähigkeit hin die Sitzung fortgesetzt, ohne einen "Hammelsprung" durchzuführen. Allein die Fortsetzung einer Sitzung sei aber noch nicht rechtserheblich.
Falscher Antragsgegner, kein tauglicher Antragsgegenstand
Zudem rügt das BVerfG, dass der Antrag den falschen Antragsgegner adressiere. Organklagen gegen sitzungsleitende Entscheidungen in Plenarsitzungen des Bundestages seien gegen den Bundestagspräsidenten bzw. die Bundestagspräsidentin zu richten und nicht gegen den Vizepräsidenten. Der Bundestagspräsident sei auch dann der richtige Antragsgegner, wenn es um die Maßnahme eines Stellvertreters geht, da die Stellvertreter als "amtierende Präsidenten" an seiner Stelle handeln.
Beim dritten Antrag vermisst das BVerfG einen tauglichen Antragsgegenstand. Dafür müsse die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung nicht nur rechtserheblich sein, sondern auch objektiv vorliegen. Andernfalls sei eine Rechtsverletzung nicht möglich. Für ihre Vermutung einer heimlichen Verabredung trage die AfD-Fraktion allerdings nicht mehr als vage Anhaltspunkte vor. Bloße Vermutungen ins Blaue hinein genügten jedoch nicht. Das BVerfG sei lediglich bei hinreichend substantiiertem Vortrag zur Sachaufklärung verpflichtet. Der Zweite Senat weist noch darauf hin, dass eine solche Abrede auch nicht rechtserheblich wäre. Insbesondere seien Gespräche zur Abstimmung und Vorbereitung parlamentarischen Handelns keine Beschlüsse des Bundestages oder seiner Organteile.