Teile des nordrhein-westfälischen Polizeirechts sind verfassungswidrig. Das BVerfG erklärte mit am Freitag veröffentlichtem Beschluss die Regelungen für die heimliche Überwachung unter Einsatz von Kameraaufzeichnungen für mit dem Grundgesetz unvereinbar (Beschluss vom 14.11.2024 – 1 BvL 3/22).
Hintergrund der Entscheidung ist eine Vorlage des BVerwG, das über die Klage einer Frau zu entscheiden hatte, die als unbeteiligte Dritte von der Polizei mit observiert worden war und sich hiergegen gerichtlich zu Wehr setzte. Bei der eigentlichen Zielperson handelte es sich um einen Gefährder aus dem rechtsextremen Spektrum, der bereits unter anderem wegen Totschlags, gefährlicher Körperverletzung und unterlassener Hilfeleistung verurteilt worden war und im Juli 2015 entlassen werden sollte. In Vorbereitung auf die Entlassung hatte die Polizei eine einmonatige Überwachung geplant, da man fürchtete, er könnte abtauchen und erneut schwere Straftaten begehen. Im Rahmen dieser Observation wurde auch die Klägerin (mit-)beobachtet und fotografiert. Von den Verwaltungsgerichten wollte sie festgestellt haben, dass diese Überwachung rechtswidrig war. Das BVerwG, das hierüber in letzter Instanz zu entscheiden hatte, setzte schließlich das Verfahren aus und befragte das BVerfG, da man selbst Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des einschlägigen Polizeigesetzes hatte.
Rechtsgrundlage für die Überwachung sind nach nordrhein-westfälischem Landesrecht die §§ 16a und 17 PolG NRW. § 16a Abs. 1 S. 1 PolG NRW ermächtigt dabei Polizeibehörden zur Erhebung personenbezogener Daten durch eine durchgehend länger als 24 Stunden oder an mehr als zwei Tagen vorgesehene oder stattfindende Observation. Hierfür müssen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass Personen Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wollen, und die Datenerhebung muss zur vorbeugenden Bekämpfung dieser Straftaten erforderlich sein. Die Ermächtigungsgrundlage erlaubt es auch, personenbezogene Daten über unbeteiligte Dritte zu erheben, soweit dies für die eigentliche Überwachung erforderlich ist. § 17 Abs. 1 S. 1 PolG NRW eröffnet schließlich die Möglichkeit, hierzu auch verdeckt Fotos und Videos anzufertigen.
Karlsruhe sieht tiefen Eingriff in Privatsphäre
Die Karlsruher Richterinnen und Richter antworteten nun, dass diese Vorschriften mit Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar sind. Grund hierfür ist, dass nach Auffassung des Ersten Senats die Ermächtigungsgrundlage zu unbestimmt und die Eingriffsschwelle, die das Gesetz vorsieht, zu niedrig bemessen ist. Als Maßstab zogen sie dafür nicht beide polizeirechtlichen Normen isoliert, sondern in ihrer – wie im Ausgangsfall geschehen – kombinierten Anwendung heran.
Zunächst führt das Gericht in seinem Beschluss aus, dass es sich bei einer dauerhaften Observation, die mit Foto- und Videoaufnahmen gepaart werde, um einen schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung handele, welches dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht zugeordnet wird. Mindernd wirke zwar, dass die Observation nicht in Wohnungen stattfinden dürfe, sondern nur im öffentlichen Bereich, wodurch der Kernbereich der Privatsphäre relativ geschützt bleibe. Zudem sei eine gebündelte Maßnahme aus Überwachung und Fotografieren nur zeitlich auf einen Monat begrenzt möglich. Doch insbesondere wenn diese Maßnahmen kombiniert erfolgten "und dabei unter Nutzung moderner Technik darauf zielen, möglichst alle Äußerungen und Bewegungen zu erfassen und bildlich wie akustisch festzuhalten, können sie tief in die Privatsphäre eindringen und ein besonders schweres Eingriffsgewicht erlangen", schreibt der Senat in seinem Beschluss.
Vorschriften gelten bis Jahresende fort
Zwar dienen diese Maßnahmen nach Ansicht des BVerfG dem legitimen Ziel, mit effektiven Aufklärungsmaßnahmen eine wirksame Bekämpfung schwerer Straftaten zu ermöglichen. Doch bei einer solchen Eingriffstiefe, wie der Karlsruher Senat sie annimmt, steigen auch die verfassungsrechtlichen Anforderungen daran, wann und wie solche Maßnahmen erlaubt sein können. "Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Datenerhebung durch heimliche Überwachungsmaßnahmen mit hoher Eingriffsintensität im Bereich der Gefahrenabwehr verlangt als Eingriffsschwelle entweder eine konkrete Gefahr oder eine wenigstens konkretisierte Gefahr", führt der Senat aus. Dafür müssten Tatsachen den Schluss auf ein hinreichend absehbares Geschehen zulassen, an dem bestimmte Personen beteiligt sein werden, auf welche die Überwachung konzentriert werden könne.
Nach der obigen Formulierung der Normen im PolG NRW ist jedoch nur erforderlich, dass Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass Personen bestimmte Straftaten "begehen wollen", eine konkrete oder wenigstens konkretisierte Gefahr ist dagegen nicht explizit gefordert. Die bloße Annahme, dass jemand irgendwann in der Zukunft Straftaten begehen wolle, genüge aber nicht und führe dazu, dass die Polizei selbst über Voraussetzungen und Grenzen des Eingriffs bestimme und nicht der Gesetzgeber, rügt das BVerfG.
Weil die Maßnahmen damit schon gegenüber den eigentlichen Adressaten rechtswidrig waren, gilt das erst recht für unbeteiligte Dritte, wie die Frau im Klageverfahren vor dem BVerwG. Die Normen sind mit dieser Entscheidung aber nicht nichtig. Weil die Beanstandungen des Senats nicht den Kern der polizeilichen Befugnisse hieraus beträfen, könne der Gesetzgeber nachbessern. Dementsprechend gaben die Richterinnen und Richter dem Land NRW auf, bis zum Ende des Jahres die verfassungsrechtlichen Bedenken durch eine Gesetzesänderung aus dem Weg zu räumen. Bis dahin gelten die Vorschriften nun erst einmal fort – Maßnahmen wie im Fall der Überwachung des entlassenen Häftlings sind allerdings untersagt.