Bundesregierung hat Beteiligungsrechte des Bundestags verletzt
Lorem Ipsum
Uli Deck/dpa/picturealliance

Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat die Bundesregierung den Bundestag nicht umfassend und frühestmöglich über den Entwurf eines Krisenmanagementkonzepts für den Mittelmeereinsatz in der Flüchtlingskrise 2015 informiert und dadurch dessen Beteiligungsrechte verletzt. Zudem habe die Regierung nicht nachvollziehbar dargelegt, dass ein Schreiben des damaligen türkischen Ministerpräsidenten an Altkanzlerin Merkel nicht der Unterrichtungspflicht unterfalle.

Grünen-Abgeordnete beklagen fehlenden Zugang zum Krisenmanagementkonzept

Im Wege des Organstreits haben die Fraktionen von Grünen und Linken, welche die bisherige restriktive Praxis seit langem kritisiert hatten, die Verletzung der Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages aus Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG geltend gemacht. Konkret ging es um zwei Vorgänge vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise 2015. Damals hatte die Bundesregierung den Parlamentariern einen Konzeptentwurf für die inzwischen ausgelaufene EU-Operation "Sophia" gegen Schleuser im Mittelmeer entgegen der Forderung der Grünenfraktion erst dann zugänglich gemacht, als der Einsatz im Rat der EU-Mitgliedstaaten bereits beschlossen war. Das Papier konnte auch dann nur in der Geheimschutzstelle des Bundestags und nur von Mitgliedern bestimmter Ausschüsse eingesehen werden.

Linksfraktion moniert Geheimhaltung eines Schreibens des türkischen Ministerpräsidenten

Das zweite Verfahren betraf ein Schreiben des damaligen türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu an Altkanzlerin Merkel, das die Linksfraktion vergeblich angefordert hatte. Die Kläger warfen der Regierung vor, das Schreiben weder zugänglich gemacht noch dargelegt zu haben, dass dieses keine Angelegenheiten der Europäischen Union betreffe. Im Schreiben sollen Fragen der Migration, der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, der außenpolitischen Dimension der Flüchtlingspolitik, der Zusammenarbeit der Europäischen Union mit Dritt- und Herkunftsstaaten sowie der Verknüpfung der EU-Türkei-Migrationsagenda mit dem Beitrittsprozess und der Migrationspolitik behandelt worden sein.

BVerfG: Bundesregierung hat Unterrichtungspflichten verletzt

Das BVerfG hat beiden Organklagen stattgegeben und festgestellt, dass die Bundesregierung den Deutschen Bundestag in seinen Rechten aus Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt hat. Die Bundesregierung sei grundsätzlich zur umfassenden und frühestmöglichen Unterrichtung des Bundestages auch in den Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik verpflichtet. So hätte die Bundesregierung im ersten Verfahren den Bundestag über das Krisenmanagementkonzept informieren müssen, sobald es in ihren Einflussbereich gelangt war. Indem die Regierung den Vorgang jedoch erst nach der Beschlussfassung des Rates der Europäischen Union übersandt habe, habe sie verhindert, dass der Bundestag auf das Krisenmanagementkonzept Einfluss nehmen konnte. Zudem gelte die Verpflichtung der Bundesregierung nach Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG gegenüber dem Bundestag insgesamt und werde nur erfüllt, wenn die Informationen allen Abgeordneten und damit auch der Öffentlichkeit frei zugänglich sind. Mithin hätte die Regierung das Konzept an alle Abgeordneten übermitteln müssen und nicht nur an Abgeordnete einzelner Ausschüsse.

Informationen waren nicht geheimhaltungsbedürftig

Desweiteren verletzten sowohl die Einstufung des Krisenmanagementkonzepts als solche als auch die Möglichkeit, es nur in der Geheimschutzstelle des Bundestages einzusehen, Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG. Beides beeinträchtige die Öffentlichkeitsfunktion des Parlaments. Da das Krisenmanagementkonzept nicht die interne Willensbildung der Bundesregierung betreffe, scheide eine Berufung auf den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung aus. Ob Geheimhaltungsgründe eine eingestufte Übermittlung des Krisenmanagementkonzepts an den Deutschen Bundestag getragen hätten, könne dahinstehen. Zumindest hätte eine derartige Übermittlung an den Bundestag in seiner Gesamtheit erfolgen müssen. Im Übrigen habe sich die Bundesregierung nicht auf eine Geheimhaltungsbedürftigkeit berufen.

Unzureichende Aufklärung über Davutoglu-Schreiben an die Kanzlerin

Schließlich habe die Bundesregierung den Bundestag auch im Hinblick auf das Schreiben des damaligen türkischen Ministerpräsidenten Davutoglu in seinen Rechten aus Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt. So habe sie es unterlassen, nachvollziehbar darzulegen, dass das Schreiben keine Angelegenheit der Europäischen Union betreffe oder die Unterlassung der Mitteilung seines Inhalts aus verfassungsrechtlichen Gründen angezeigt gewesen sei. Der bloße Hinweis, dass es sich um ein persönliches Schreiben des türkischen Ministerpräsidenten an die damalige Bundeskanzlerin gehandelt habe und durch die Durchbrechung der Vertraulichkeit dieser Korrespondenz die Funktionsfähigkeit der Bundesregierung insgesamt erheblich beeinträchtigt wäre, genüge insoweit nicht, zumal das Schreiben nach der damaligen Presseberichterstattung an alle seinerzeit 28 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union gerichtet gewesen sein soll.

BVerfG, Urteil vom 26.10.2022 - 2 BvE 3/15

Redaktion beck-aktuell, 27. Oktober 2022 (ergänzt durch Material der dpa).