Bundesverfassungsrichter verteidigen ihr EZB-Urteil
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Selten hat ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts so schnell einen solch heftigen Disput in der Öffentlichkeit entfacht wie jenes zu Anleihekäufen der EZB – und insbesondere zu einer diesbezüglichen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, die das BVerfG als ausbrechenden Rechtsakt für "objektiv willkürlich" hält. Nun traten sogar zwei der beteiligten BVerfG-Richter zu einer Erklärungs- und Verteidigungsoffensive an.

Zwei Interviews des Berichterstatters

Peter Huber, der im Zweiten Senat des BVerfG der Berichterstatter für dieses Verfahren war, gab gleich zwei Zeitungen Interviews. Der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" sagte er: "Solange wir nicht in einem europäischen Staat leben, richtet sich die Mitgliedschaft eines Landes nach seinem Verfassungsrecht." Auch andere oberste Gerichte hätten Entscheidungen des EuGH schon für "offensichtlich kompetenzwidrig" gehalten. Dass die europäische Rechtsgemeinschaft derzeit in einer kritischen Phase sei, "haben wir uns nicht ausgesucht". Ein Gericht dürfe nicht nach politischen Kriterien darüber entscheiden, wann es urteile.

Huber: Mehr EuGH, aber er muss seinen Job besser machen

Gegenüber der "Süddeutschen Zeitung" brachte Huber seine Einschätzung der heftigen Reaktionen auf den Nenner: "Wir haben Applaus von der falschen Seite bekommen, und die Kritiker haben entweder die Stoßrichtung nicht verstanden oder wollen sie nicht sehen." Anders als in Polen oder Ungarn gehe es gerade nicht darum, den EuGH aus der Kontrolle der Institutionen herauszuhalten: "Wir wollen also mehr EuGH, wir wollen, dass er seinen Job besser macht." Doch der Satz von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, das Europarecht gelte immer und ohne jede Einschränkung, "ist – so gesehen – falsch". Am vernünftigsten wäre es jetzt, "den Ball flach zu halten".

Präsident legt nach

Der in Kürze ausscheidende Gerichtspräsident und Senatsvorsitzende Andreas Voßkuhle äußerte sich ebenfalls gegenüber der Presse. Die Entscheidung sei "für Europa eine gute Entscheidung (...), weil sie die Bindung an das Recht stärkt", sagte er der "Zeit" für ihre Ausgabe vom 14.05.2020. „Wir sehen, dass unser Urteil viele bedrückt, und das freut uns nicht. Aber wir sind Gesetz und Recht verpflichtet.“ Nach der Karlsruher Rechtsprechung und jener vieler andere Verfassungsgerichte der EU-Mitgliedstaaten seien diese "legitimiert und verpflichtet, in seltenen Ausnahmefällen bei besonders gravierenden Kompetenzverletzungen der europäischen Institutionen einzuschreiten". Bei der Verkündung – seiner letzten Amtshandlung in Karlsruhe – hatte Voßkuhle bereits eingeräumt, das Urteil könne "auf den ersten Blick irritierend wirken" – was wohl das Understatement des Jahres war.

Ungewöhnliche Kritik eines BGH-Richters

Harsche Kritik kam derweil aus den Reihen der Justiz. Peter Meier-Beck, immerhin Vorsitzender Richter am BGH, schrieb im Kartellrechtsblog der Uni Düsseldorf, der Richterspruch habe bei ihm "Entsetzen" ausgelöst: Er sei "ein Angriff auf die Europäische Union als rechtlich verfasste Gemeinschaft europäischer Demokratien". EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen drohte mit einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland. Und auch in den allgemeinen Medien flogen die Fetzen: Die einen warfen dem Zweiten Senat vor, nationalistischen Bestrebungen etwa in Polen – von wo aus prompt Zustimmung zu dem Richterspruch kam – einen willkommenen Vorwand für den Bruch von EU-Recht zu liefern. Andere sprangen Karlsruhe zur Seite und befanden: Luxemburg habe nicht zwangsläufig das letzte Wort, wenn es um die Grenzen der Kompetenzübertragung gehe, da der europäische Staatenverbund kein Bundesstaat sei. Ein Zwist, der sich auch in leidenschaftlichen Beiträgen und Zitaten von Juraprofessoren beider Lager in Tagespresse und Internet widerspiegelt.

Lob und Tadel aus der Politik

Kontrovers fielen die Reaktionen im politischen Raum insbesondere innerhalb der CDU aus. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, Norbert Röttgen, nannte das EZB-Urteil "fatal": Die europäische und internationale Resonanz sei "verheerend". "Es ist verständlich, dass die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren prüft", sagte er der "Passauer Neuen Presse". Friedrich Merz stützte hingegen die höchsten Richter. Solange die Mitgliedstaaten die wesentlichen Träger des europäischen Staatenverbunds seien, hätten die nationalen Gerichte das Recht und die Pflicht, "das Handeln der Organe und Institutionen ihres jeweiligen Mitgliedstaates an den Maßstäben des nationalen Verfassungsrechts zu überprüfen", sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Der CDU-Rechtspolitiker Heribert Hirte, amtierender Vorsitzender des Bundestags-Rechtsausschusses, hatte schon kurz nach der Verkündung erklärt: "Es ist bemerkenswert, dass sich ein Verfassungsgericht eines Staates – und dann auch noch so ein bedeutendes wie das BVerfG – so offensiv gegen den EuGH stellt." Künftig werde es für Deutschland schwierig, die Einhaltung des europäischen acquis communautaire (des gemeinschaftliche Besitzstands an Rechtsnormen) zu fordern: "Denn in der Zukunft können auch andere Staaten dem Vorbild des Bundesverfassungsgerichts folgen."

Nochmals nach Luxemburg?

Ausgang offen? Käme es tatsächlich zu einer Klage Brüssels gegen die Bundesrepublik, würde der Fall abermals beim EuGH landen – und das heikle Ringen um "ultra vires" und "ausbrechende Rechtsakte" könnte von neuem beginnen. Gut vorstellbar aber, dass Karlsruhe das Ganze als Warnschuss verstanden haben möchte und nun wieder zum viel beschworenen Kooperationsverhältnis zurückkehrt. Die konkreten Auswirkungen auf die beiden Notenbanken dürften ohnehin gering sein. Zwar dräut schon der nächste Konflikt, nämlich in einem Fall aus dem kirchlichen Arbeitsrecht. Doch bis es dort zum Schwur kommt, könnte es auf der Richterbank noch einige Veränderungen geben.

Prof. Dr. Joachim Jahn

Redaktion beck-aktuell, Joachim Jahn, 13. Mai 2020 (ergänzt durch Material der dpa).