Bundestag debattierte über Impfpflicht

Als Bärbel Bas (SPD) den Tagesordnungspunkt drei aufruft, wird klar, dass es keine alltägliche Debatte sein soll. Im Kampf gegen die Pandemie sei das Land in einer kritischen Phase, sagt die Bundestagspräsidentin. “Viele Menschen sind erschöpft, und wir alle wünschen uns eine möglichst schnelle Rückkehr zu einem normalen Alltag.“ Angesichts beispiellos hoher Infektionszahlen diskutierte das Parlament am 26.01.2022 über die Frage, ob eine allgemeine Impfpflicht kommen soll.

Karl Lauterbach im Zentrum der Erwartungen

Lange wurde ein so tiefer Eingriff ausgeschlossen, nun steht er doch auf der Agenda. Es gehe um “komplexe Abwägungen“, sagt Bas. Und wünscht eine faire, respektvolle und konstruktive Debatte. Viele Blicke richten sich auf Karl Lauterbach, der sich schon klar für eine Impfpflicht positioniert hat. Auf der langen Rednerliste steht er aber fast ganz hinten. Der Gesundheitsminister von der SPD sitzt nicht auf der Regierungsbank, sondern demonstrativ als normaler Abgeordneter in den Reihen seiner Fraktion. Genau wie Justizminister Marco Buschmann (FDP), der “wohlgemerkt nicht in amtlicher Eigenschaft“ erläutert, dass medizinischer Eigenschutz als Argument nicht ausreiche. Worum es gehen müsse, sei “die Verteidigung der Intensivstationen vor Überlastung“. Er fügt aber noch hinzu, dass er selbst sich noch keine abschließende Meinung zutraue.

Koalition bei Impfpflicht ohne gemeinsame Linie

Um das Für und Wider und auch praktische Aspekte einer möglichen Impfpflicht geht es in dieser “Orientierungsdebatte“ So etwas gibt es im Parlament vor allem zu sensiblen ethischen Themen, zuletzt etwa zu lebensrettenden Organspenden. Diesmal gab es aber schon Ärger ums Vorgehen: Die Ampel-Partner SPD, Grüne und FDP haben vereinbart, dass die Abgeordneten frei von üblichen Fraktionsvorgaben diskutieren und entscheiden sollen - auch, um nach der Impf-Kehrtwende zu einem Konsens zu finden. Offenkundig gibt es in der Koalition aber auch keine gemeinsame Linie dazu. Die oppositionelle Union spießt das als mangelnde Führung auf und verlangt einen Gesetzentwurf der Regierung. Der CDU-Gesundheitsexperte Tino Sorge hält Kanzler Olaf Scholz (SPD) noch einmal ein “Versteckspiel“ vor und dass er keinerlei Richtung vorgebe. So eine Debatte hätte man sich besser schon vor Weihnachten gewünscht. Pauschale Lösungen seien fast immer schlecht, und viele fachliche und verfassungsrechtliche Fragen nicht so einfach. Scholz verfolgte die Debatte auf der Regierungsbank, auf der Rednerliste stand er aber nicht. Dabei hat Kanzler wiederholt klar gemacht, dass er für eine Impfpflicht eintritt - nur eben als Abgeordneter.

Debatte mit drei großen Argumentationslinien

In der Debatte haben die Parlamentarier jeweils wenige Minuten für ihre Wortmeldungen - ein dichter Takt, wie ihn sich viele auch in den Impfzentren wünschten. Drei große Argumentationslinien werden dabei deutlich. SPD-Fraktionsvize Dagmar Schmidt wirbt für eine Impfpflicht ab 18 Jahren, für die Abgeordnete aller drei Ampel-Fraktionen einen Antrag vorbereiten: Es sollten alle Erwachsenen einbezogen werden, “damit alle mit allen solidarisch sind“. Till Steffen von den Grünen sagt, es sei kein geringer Eingriff. “Aber es ist die viel größere Zumutung, dass notwendige Operationen verschoben werden müssen.“

Kubicki ist gegen eine Impfpflicht

Gegen die Impfpflicht argumentiert FDP-Vize Wolfgang Kubicki, der auch eine entsprechende Initiative angestoßen hat. Seine eigenen Impfungen seien für ihn “ein Freedom Day“ gewesen. Doch: “Ich möchte jedenfalls nicht, dass die Mehrheit für die Minderheit festlegt, was man als vernünftig anzusehen hat.“ Man tue gut daran, die Impfung nicht zu einer “Solidaritätspflicht“ zu machen. Eine “Impfpflicht auf Vorrat“ für eine Welle im Herbst sei rechtlich nicht vertretbar. AfD-Chef Tino Chrupalla attackiert den Regierungskurs von Corona bis zu Strompreisen und lehnt die Impfpflicht “vollständig“ ab. Andrew Ullmann von der FDP wirbt für einen dritten Ansatz, den er mit anderen Abgeordneten vorbereitet: Pflicht-Aufklärungsgespräche für ungeimpfte Erwachsene und - wird die nötige Impfquote nach gewisser Zeit nicht erreicht - dann eine Impfpflicht ab 50 Jahren. “Wir wollen die Menschen nur als ultima ratio zur Vernunft verpflichten.“

Sehr persönlicher Redebeitrag von Linken-Politiker Birkwald

Manche begründen ihre Position mit sehr persönlichen Erfahrungen. Der Linken-Politiker Matthias W. Birkwald berichtet, dass er sich für die Booster-Impfung entschieden habe, obwohl er sieben Monate lang Schmerzen an der Einstichstelle der Zweitimpfung hatte. “Und obwohl mein Vater einen Tag nach seiner Impfung gegen Covid-19 verstorben ist, was offiziell keinen Zusammenhang mit der Impfung hatte, sich aber nach wie vor völlig anders anfühlt.“ Er habe eine individuelle Risikoabwägung getroffen, sagt Birkwald. Und er halte “diese freie Entscheidung für den richtigen Weg für alle erwachsenen Menschen“.

Impfnachweis-Pflicht für Beschäftigte bestimmter Berufsgruppen schon beschlossen 

In der Sache geht es streng genommen um eine Impfnachweis-Pflicht. Denn klar ist, dass niemand gegen seinen Willen zu Impfungen gedrängt werden kann. Vorbild könnte die erste begrenzte Corona-Impfpflicht sein, die schon besiegelt ist: Beschäftigte in Einrichtungen wie Pflegeheimen und Kliniken müssen bis zum 15.03.2022 Impfnachweise vorlegen. Vorgeschaltet sind mehrere Monate Vorlauf, um sich noch impfen zu lassen. Das dürfte bei der allgemeinen Pflicht auch so sein. Davon wäre gut die Hälfte der Bundesbürger wohl gar nicht selbst berührt: Mindestens 42,6 Millionen Menschen oder 51,3% aller Einwohner sind schon “geboostert“. Sie haben also meist drei Spritzen bekommen und damit alle empfohlenen Impfungen. Viele zweimal Geimpfte dürften noch folgen. Unter den 69,4 Millionen Erwachsenen sind aber laut Robert Koch-Institut (RKI) noch 15% nicht geimpft - bei Menschen ab 60 mit größerem Corona-Risiko 11,4%.

Umsetzung einer Impfpflicht frühestens im Sommer

Konkrete Gesetzentwürfe sollen nun bald auf den Tisch kommen, auch mit fachlicher Hilfe der Ministerien. Besiegelt werden könnte eine Regelung nach SPD-Planungen im März und dann als Nachweispflicht im Sommer konkret greifen. Für den Bundestag dürfte es nicht die letzte sensible ethische Debatte in der nächsten Zeit sein: Am 27.01.2022 stellen fünf Abgeordnete von SPD, FDP, Grünen, Linke und CDU einen Entwurf zu möglichen Neuregelungen bei der Sterbehilfe vor.

Redaktion beck-aktuell, Sascha Meyer und Michael Fische, 27. Januar 2022 (dpa).