Bundestag reformiert erneut das KapMuG
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Der Bundestag hat das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) zum zweiten Mal reformiert. Allerdings nahmen die Abgeordneten in letzter Minute noch zahlreiche Änderungen am Entwurf der Bundesregierung vor.

Als das KapMuG im Jahr 2005 eingeführt wurde, war das eine Notmaßnahme: Rund 16.000 Klein- und Großanleger hatten beim LG Frankfurt a. M. Klage gegen die Deutsche Telekom eingereicht, weil die im Fernsehen von dem inzwischen verstorbenen Schauspieler Manfred Krug als "Volksaktie" beworben worden war – und alsbald dann an der Börse abstürzte. Dieser dritte Teil der Privatisierung des Brief- und Paketkonzerns im Jahr 2000 brachte manchen sogar um seine angesparte Altersvorsorge. Das Gericht in der Bankenmetropole drohte förmlich an der Aktenflut zu ertrinken, die seit etwa 2001 anbrandete – zumal auf Anlegerschutz spezialisierte Kanzleien fleißig Akquise betrieben. Eine davon karrte sogar per Lastwagen kartonweise ihre Klageschriften zur Geschäftsstelle – ein damals viel veröffentlichtes Fotomotiv in den Zeitungsartikeln. Die "Lex Telekom" sollte deshalb Massenverfahren im Bereich von Finanzanlagen bündeln und beschleunigen.

Doch diese neue Form von Kollektivklagen (inzwischen sind auch noch die Musterfeststellungsklage und die Abhilfeklage hinzugetreten) enttäuschte die Erwartungen: Nach mehreren Runden über den BGH, der den Klägern schließlich Recht gab, endete der Monsterprozess durch einen Vergleich, den eine erste Reform im Jahr 2012 ermöglicht hatte. Das gelang allerdings erst im Jahr 2021, also ziemlich genau zwei Jahrzehnte nach Einführung des KapMuG, das eigentlich die Justiz entlasten sollte. Der sogenannte Musterkläger war inzwischen genauso verstorben wie sein auf diese Verfahrensart spezialisierter Anwalt Andreas Tilp. Auch anderen Großverfahren geht es ähnlich – so laufen vor Oberlandesgerichten seit etlichen Jahren diverse weitere Prozesse etwa gegen börsennotierte Autohersteller nach dieser Prozessordnung, beispielsweise wegen des Dieselskandals oder auch noch immer wegen der zunächst gescheiterten Übernahme der Volkswagen AG durch den deutlich kleineren Wettbewerber Porsche im Jahr 2008/2009 wegen angeblich falscher Information des Kapitalmarkts.

Neuer Anlauf

Am gestrigen Donnerstagabend folgte nun im Bundestag ein neuer Versuch, das Gesetz praxistauglicher zu machen. Dessen Rechtsausschuss hatte noch zwei Tage vorher zahlreiche Korrekturen an dem Entwurf der Bundesregierung vorgenommen, den Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) entwickelt und mit den anderen Ressorts abgestimmt hatte. Die Grundidee: Das KapMuG soll reformiert und entfristet werden; es wäre sonst am 31.8. dieses Jahres ausgelaufen. Es stelle insbesondere für Ansprüche wegen falscher, irreführender oder unterlassener öffentlicher Kapitalmarktinformation ein besonderes zivilprozessuales Musterverfahren vor den Oberlandesgerichten bereit, so die Bundesregierung. Tatsachen- oder Rechtsfragen, die sich in mehreren Individualklageverfahren vor den Landgerichten gleichermaßen stellen, werden danach dem Oberlandesgericht vorgelegt und in einem einheitlichen Verfahren verhandelt und entschieden, "wenn Parteien in mindestens zehn dieser Individualverfahren dies beantragen". Im Anschluss an den Musterentscheid würden die einzelnen Klageverfahren vor den Landgerichten auf dessen Grundlage zu Ende geführt. Das Gesetz soll "als besondere Verfahrensordnung mit seinem bisherigen Anwendungsbereich" erhalten bleiben.

"Das Musterverfahren hat sich in der Praxis trotz seiner bisherigen Unzulänglichkeiten grundsätzlich als Instrument zur Bewältigung gehäuft auftretender gleichlaufender Klagen mit kapitalmarktrechtlichem Bezug bewährt", heißt es dazu mit erstaunlich positiver Bewertung. Denn bisher erwiesen sich die Landgerichte als Flaschenhals: Wenn genug geeignete Fälle bei ihnen eintrudelten, formulierten sie sogenannte Feststellungsziele und legten sie ihrem OLG vor. Das bestimmte einen Musterkläger, und in der ersten Instanz ruhten alle Verfahren. Ursprünglich war es auch so, dass jeder erst im Laufe des Verfahrens von Kläger oder Beklagtem geltend gemachte Mangel etwa an einem Verkaufsprospekt für Schiffsfonds zunächst wieder vom LG geprüft und dann an die höhere Instanz weitergereicht wurde. Und dabei bleibt es selten: Hat das OLG einen Musterentscheid erlassen – nach einer oder mehreren Verhandlungen (im Telekom-Prozess flog der ganze Senat sogar einmal zur Beweisaufnahme in die USA) und unter Beteilung einer langen Reihe von Beigeladenen –, reicht die Verliererseite typischerweise eine Rechtsbeschwerde beim BGH ein. Sieht der einen Makel, schickt er die Akten zur Nachbesserung zurück. Und wenn dann die KapMuG-Entscheidung endlich rechtskräftig ist und dem Musterkläger zugestimmt hat, müssen die Landgerichte jeden einzelnen Fall wieder aufgreifen, um zu prüfen, ob bei dem konkreten Kläger auch alle Voraussetzungen für einen Anspruch erfüllen.

Rolle der OLGs gestärkt

Jedenfalls soll alles nun glatter laufen. Die Oberlandesgerichte sollten dem ursprünglichen Entwurf künftig selbst die sich aus den Ausgangsverfahren ergebenden Feststellungsziele für das Musterverfahren formulieren. "Das Oberlandesgericht wird damit in die Lage versetzt, den Gegenstand des Musterverfahrens nach dem Maßstab der Sachdienlichkeit so zu bestimmen, dass eine effiziente Verfahrensführung bei gleichzeitig möglichst weitgehendem Erhalt der mit dem Musterverfahren bezweckten Bündelung von Verfahren möglich wird", schrieb die rot-grün-gelbe Regierung. Dadurch solle der Zeitraum, "bis es von einem Ausgangsverfahren vor dem Landgericht zu einem Musterverfahren beim Oberlandesgericht kommt", verkürzt werden. Auch die Digitalisierung der Verfahren durch eine digitale Aktenführung ist angestrebt. Ferner soll der Anwendungsbereich des Gesetzes auch auf den Kryptowerte-Handel erweitertet werden, fasst der Bundestags-Pressedienst den Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens zusammen. Geschädigte Anleger können sich aussuchen, ob sie individuell klagen oder sich dem Musterverfahren anschließen.

Auf Antrag der Koalitionsfraktionen griff der Rechtsausschuss dann aber noch in mehreren Punkten ein; CDU/CSU, die Linken-Gruppe und das BSW lehnten ab, die AfD enthielt sich. Nach der jetzt vom Plenum in letzter Lesung verabschiedeten Fassung wurden auch Anlagebasisinformationsblätter von Schwarmfinanzierungsdienstleistern sowie Ratings und Bestätigungsvermerke von Abschlussprüfern als Regelbeispiele für öffentliche Kapitalmarktinformationen einbezogen. Weitere Änderungen beziehen sich auf Regelungen zur Entscheidung über den Musterverfahrensantrag, zum Inhalt des Vorlagebeschlusses, zum Eröffnungsbeschluss durch die Oberlandesgerichte und zum Musterkläger. Ergänzt wurden überdies Bestimmungen zur Vorlage von Beweismitteln in den Verfahren. Fünf Jahre nach Inkrafttreten soll die Novelle evaluiert werden.

Bei einer Anhörung des Rechtsausschusses Mitte Mai hatten sich die geladenen Experten nämlich ziemlich kontrovers zum Regierungsvorschlag geäußert, wie der Pressedienst des Bundestags aus der Sitzung berichtete. So nannte der Lüneburger Juraprofessor Axel Halfmeier, die "Zwangsbeteiligung" an Musterverfahren eine "deutsche Spezialität", während im Ausland Freiwilligkeit herrsche. Als ein Problem aus der Praxis schilderten übereinstimmend Fabian Richter Reuschle (so heißt er tatsächlich), Richter am LG Stuttgart, und Jens Rathmann, Vorsitzender Richter am OLG Frankfurt am Main, die Regelung zu Verjährungsfristen: Viele Geschädigte, die lieber ein Musterverfahren abwarten würden, reichten notgedrungen eigene Klagen ein, weil sonst die Verjährung drohe, bevor das Oberlandesgericht über die Aufnahme eines solchen Musterverfahrens entschieden habe. Beide plädierten daher wie auch andere Sachverständige für das Aussetzen der Verjährung in solchen Fällen. Fabian Richter Reuschle war übrigens als abgeordneter Staatsanwalt im Bundesjustizministerium maßgeblich am Entwurf des KapMuG in seiner ersten Fassung beteiligt – und tut sich seither immer wieder mit Kritik daran hervor.

Transparenzhinweis: Die Grünen-Politikerin Manuela Rottmann hat dankenswerterweise auf Twitter auf diesen Bericht reagiert und geschrieben: "Das von Herrn Richter Reuschle angesprochene Problem der Klageerhebung allein zur Abwendung der Verjährung haben wir durch Rückwirkung der verhemmenden Wirkung der Anmeldung auf Veröffentlichung des Eröffnungsbeschlusses gelöst." jja., 11.15 Uhr

Redaktion beck-aktuell, Prof. Dr. Joachim Jahn ist Mitglied der NJW-Schriftleitung, 14. Juni 2024.