Merz scheitert im ersten Wahlgang: Was das Grundgesetz jetzt vorsieht
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Er brauchte 316 Stimmen, bekam aber nur 310 - eine historische Niederlage im ersten Anlauf bei der Kanzlerwahl im Bundestag für Friedrich Merz. Doch das Grundgesetz sichert Kontinuität und schreibt vor, wie es weiter geht - wenn denn die Abweichler auf Linie gebracht werden können.  

CDU-Chef Friedrich Merz hat bei der Kanzlerwahl im Bundestag im ersten Wahlgang nicht die nötige Zahl von Stimmen erhalten - ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik. Er hätte von 621 abgegebenen Stimmen 316 gebraucht, doch in der geheimen Abstimmung bekam er am Dienstagvormittag nur 310. 

Der bisherige Kanzler Olaf Scholz (SPD), der nur noch geschäftsführend im Amt ist, wurde am Vorabend bereits feierlich mit einem Großen Zapfenstreich verabschiedet. Doch nach dem Scheitern von Merz bekommt der Norddeutsche jetzt eine ungeplante Verlängerung. Nach Art. 69 Abs. 3 GG ist der Kanzler auf Ersuchen des Bundespräsidenten verpflichtet, die Amtsgeschäfte "bis zur Ernennung seines Nachfolgers" weiterzuführen. Auch die Ministerinnen und Minister des Bundeskabinetts bleiben vorerst geschäftsführend im Amt. Das ist Ausdruck des Kontinuitätsprinzips, das eine Vakanz im Bereich der Bundesregierung vermeiden will. Die geplante Ernennung von Merz durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist zunächst geplatzt. Die Vereidigung des Kabinetts auch.

Für eine stabile Kanzlermehrheit: Beliebig viele Wahlgänge binnen zwei Wochen

Der Bundestag hat mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit am Dienstagnachmittag einen zweiten Wahlgang für die Wahl des Bundeskanzlers noch für den heutigen Nachmittag angesetzt. Die Fraktionen von Union, SPD, Grünen und Linken hatten dies nach dem gescheiterten ersten Wahlgang gemeinsam beantragt*. 

Für den Fall, dass ein Kandidat bei der Kanzlerwahl im ersten Wahlgang durchfällt, regelt Artikel 63 GG:  "Wird der Vorgeschlagene nicht gewählt, so kann der Bundestag binnen 14 Tagen nach dem Wahlgang mit mehr als der Hälfte seiner Mitglieder einen Bundeskanzler wählen." Die sogenannte Kanzlermehrheit, die Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder des Bundestags, soll für eine stabile Regierung sorgen. Binnen dieser Frist sind deshalb beliebig viele Wahlvorschläge und Wahlgänge zulässig.

Später einfache statt absolute Mehrheit

Denkbar wären auch Wahlgänge mit anderen Kandidatinnen und Kandidaten, die Wahlvorschläge bräuchten nach § 4 der Geschäftsordnung des Bundestags (GO-BT) die Unterstützung von einem Viertel der Mitglieder des Bundestags. Aber auch jede und jeder andere bräuchte die absolute Mehrheit von mindestens 316 Stimmen, um gewählt zu sein.

Erst wenn binnen dieser Frist niemand mit Kanzlermehrheit gewählt würde, könnte Friedrich Merz Minderheitskanzler werde. Nach Ablauf der 14-Tages-Frist müsste dann nach Art. 69 Abs. 4 GG unverzüglich neu gewählt werden, dann würde für die Wahl die einfache Mehrheit reichen, also mehr Ja- als Nein-Stimmen für Friedrich Merz (oder eine andere Kandidaten oder einen Kandidaten).

Wenn der oder die Gewählte die Kanzlermehrheit erhält, muss der Bundespräsident ihn oder sie innerhalb von sieben Tagen nach der Wahl ernennen. Bei einer Wahl nur mit einfacher Mehrheit kann der Bundespräsident alternativ auch binnen sieben Tagen den Bundestag auflösen und eine Neuwahl ansetzen.

Die Abweichler sind unbekannt 

Weil die Abstimmung nach § 4 S. 1 GO-BT iVm § 49 GO-BT mit verdeckten Stimmzetteln, also geheim erfolgt, ist noch nicht klar, wer für das Debakel verantwortlich ist. Union und SPD hatten vor der Sitzung angegeben, dass ihre Abgeordneten komplett anwesend seien, also 328. Das bedeutet, dass mindestens 18 nicht für Merz gestimmt haben, vielleicht auch mehr. Theoretisch könnten ja auch Oppositionspolitiker ihre Stimme für Merz abgegeben haben.

SPD-Fraktionschef Lars Klingbeil erklärte nach Angaben aus Fraktionskreisen, er habe "nicht den geringsten Hinweis, dass die SPD nicht vollständig gestanden hat". Das deutliche Mitgliedervotum über den Koalitionsvertrag sei ein Auftrag an die Fraktion. "Und sie erfüllt diesen. Auf uns ist Verlass", betonte der designierte Vizekanzler demnach.

Die AfD und forderte sofort eine Neuwahl des Bundestags, Grünen-Chefin Franziska Brantner dagegen sagte der dpa: "Wir wünschen uns für Europa und Deutschland eine handlungsfähige Regierung." Merz und Klingbeil müssten nun beweisen, dass sie die Mehrheit ihrer Fraktionen jetzt, aber auch für vier Jahre sichern könnten. Thüringens früherer Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) machte ebenfalls Merz und Klingbeil für die Lage verantwortlich. "Ich bin krachsauer auf die Koalition", sagte er der dpa.

*Text an mehreren Stellen am Tag der Veröffentlichung aktualisiert (pl, Redaktion beck-aktuell) 

 

 

Redaktion beck-aktuell, pl, 6. Mai 2025 (ergänzt durch Material der dpa).

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