Bund kündigt nach Wirecard-Skandal Vertrag mit Bilanzprüfern

Die Bundesregierung zieht nach dem Milliarden-Bilanzskandal um den Dax-Konzern Wirecard erste Konsequenzen. Das Bundesjustizministerium und das Bundesfinanzministerium werden den Vertrag mit der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) kündigen. Darauf hätten sich beide Ministerien verständigt, bestätigte ein Sprecher des Justizressorts am 28.06.2020. Der privatrechtlich organisierte Verein DPR kontrolliert im Staatsauftrag die Bilanzen. Er habe im Fall von Wirecard nach Ansicht der Ministerien versagt, schreibt die "Bild am Sonntag". Bei der DPR war zunächst keine Stellungnahme zu erhalten.

Bafin wies auf Ungereimtheiten in Wirecard-Bilanz hin

Die Bundesanstalt für Finanzaufsicht (Bafin) hatte nach eigener Darstellung der DPR im Februar 2019 den Hinweis gegeben, dass es Ungereimtheiten in der Halbjahresbilanz 2018 von Wirecard gebe. "Wir haben unmittelbar reagiert und Mitte Februar 2019 bei der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) eine Bilanzprüfung veranlasst", sagte eine Sprecherin auf Anfrage. Die Bafin sei für die Bilanzprüfung nicht zuständig. Zuständig sei auf erster Stufe allein die DPR. Dort habe die Prüfung so lange gedauert. Zuvor hatte die "Bild"-Zeitung berichtet. 

Prüfstelle mit (zu) wenig Personal

Nach einem Bericht der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" (FAS) hat die auch als "Bilanzpolizei" bezeichnete Prüfstelle jedoch nur wenig Personal. Mit der aufwendigen und komplexen Prüfung sei in den vergangenen 16 Monaten im Wesentlichen nur ein einzelner Mitarbeiter betraut gewesen. Bei der DPR war auch dazu zunächst keine Stellungnahme zu erhalten. 

EU-Kommission kritisiert Aufgabenteilung zwischen Bafin und DPR

Die Aufgabenteilung zwischen Bafin und DPR steht laut FAS auch im Zentrum der harten Kritik von Seiten der EU-Kommission an Deutschland im Fall Wirecard. Die EU lässt mittlerweile das Agieren der deutschen Finanzaufseher in dem Bilanzskandal von der europäischen Wertpapieraufsichtsbehörde ESMA überprüfen. Wirecard hatte Insolvenz beantragt, nachdem das Unternehmen eingestehen musste, dass in der Bilanz aufgeführte Barmittel von 1,9 Milliarden Euro, die angeblich auf asiatischen Bankkonten lagen, nicht auffindbar seien. Bafin-Präsident Felix Hufeld hatte die Ereignisse als eine "Schande" bezeichnet. Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) kündigte eine schärfere Regulierung an: "Wir müssen unsere Aufsichtsstrukturen auch überdenken." Hufeld soll am 01.07.2020 im Finanzausschuss des Bundestages Rede und Antwort stehen. 

Wirecard will Betrieb fortsetzen

Der nach dem Bilanzskandal ums Überleben kämpfende Zahlungsabwickler will den Betrieb nach dem Insolvenzantrag fortsetzen. "Der Vorstand ist der Meinung, dass eine Fortführung im besten Interesse der Gläubiger ist", teilte der Dax-Konzern in Aschheim bei München mit. "Der Geschäftsbetrieb der Konzerngesellschaften inklusive der lizensierten Einheiten wird aktuell fortgesetzt." Die Botschaft richtete sich an "Kunden und Partner". Insbesondere die zu Wirecard gehörende Bank ist laut Unternehmen aktuell nicht Teil des Insolvenzverfahrens. Auszahlungen an Händler würden weiterhin ohne Einschränkungen ausgeführt. Man stehe zudem "im stetigen Austausch mit den Kreditkartenorganisationen", schrieb der Wirecard-Vorstand in einer Mitteilung.

In Newcastle ansässige Tochter Wirecard Card Solutions unbefristet stillgelegt

Allerdings hat die britische Finanzaufsicht FCA die in Newcastle ansässige Tochter Wirecard Card Solutions unbefristet stillgelegt und deren Konten eingefroren. Das Unternehmen darf im Vereinigten Königreich nun auf unbestimmte Zeit weder Geschäfte machen noch ohne schriftliche Genehmigung der Behörde Gelder oder Vermögenswerte transferieren, wie aus der öffentlichen Anordnung der FCA auf der Webseite der Behörde ersichtlich wird.

Bekannter Insolvenzverwalter als Sachverständiger bestellt

Der Vorstand der deutschen Muttergesellschaft Wirecard AG hatte beim Münchner Amtsgericht Insolvenz beantragt. Das Gericht hat den Rechtsanwalt Michael Jaffé als Sachverständigen bestellt, einen der bekanntesten Insolvenzverwalter Deutschlands. Dieser muss nun im ersten Schritt das Insolvenzgutachten erstellen. Eine ganz zentrale Frage bei Insolvenzgutachten ist, ob das jeweilige Unternehmen seinen Geschäftsbetrieb fortsetzen kann. Jaffés Kanzlei hat einschlägige Erfahrung sowohl mit Großinsolvenzen wie der Pleite der Mediengruppe Kirch als auch mit der Aufarbeitung von Luftgeschäften wie bei der Kapitalanlagefirma P&R, die zehntausende Kleinanleger mit der Vermietung nichtexistenter Schiffscontainer geprellt hatte.

Mutmaßliche Luftbuchungen in Milliardenhöhe eingestanden

Wirecard wickelt die bargeldlosen Geldflüsse zwischen Händlern auf der einen und Banken sowie Kreditkartenfirmen auf der anderen Seite ab. Weltweit beschäftigt der Konzern knapp 6.000 Menschen. Auslöser für den Insolvenzantrag war das Eingeständnis mutmaßlicher Luftbuchungen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY, die den Jahresabschluss 2019 prüfte, geht von Betrug in internationalem Maßstab aus. Die Münchner Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Ex-Vorstandschef Markus Braun und weitere ehemalige und aktive Spitzenmanager.

Auch Bafin unter Druck

Unter Druck geraten ist auch die deutsche Finanzaufsicht Bafin, weil die mutmaßlichen Bilanzmanipulationen lange unentdeckt blieben. Bei der Bilanzkontrolle börsennotierter Unternehmen gibt es allerdings ein zweistufiges Verfahren, wie die Bafin auf ihrer Webseite schreibt. In der ersten Stufe untersucht demnach die DPR die Verdachtsfälle, erst in der zweiten Stufe wird die Bafin aktiv. Im Tätigkeitsbericht der DPR heißt es nur, 2019 seien 86 Prüfungen abgeschlossen worden, darunter eine Prüfung auf Verlangen der Bafin. Diese habe "in einem Fall konkrete Anhaltspunkte für einen Fehler in einem Halbjahresfinanzbericht identifiziert und die DPR aufgefordert, eine Prüfung einzuleiten".

Redaktion beck-aktuell, Carsten Hoefer und André Stahl, 30. Juni 2020 (dpa).