"Herbst der Reformen" – Welche Grenzen zieht das Existenzminimum?
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Der Staat muss Geld einsparen – nicht zuletzt im Sozialhaushalt, wenn es nach der Union geht. Kritikerinnen und Kritiker halten stets das Existenzminimum entgegen, das keine großen Kürzungen erlaube. Doch was steckt eigentlich dahinter? Annalena Mayr mit einem Beitrag zur Versachlichung.

Die Regierung unter Friedrich Merz (CDU) hat einen "Herbst der Reformen" angekündigt. Im Herzen dessen stehen umfassende Sozialreformen. Carsten Linnemann, Generalsekretär der CDU, spricht – angelehnt an die Agenda 2010 – gar von einer bevorstehenden Agenda 2030. Doch was konkret geplant ist, ist noch offen. Nur das Ziel scheint klar: Es soll gespart werden. Und das vor allem beim Bürgergeld. 

Gespannt wartet man dieser Tage deshalb auf einen Vorschlag der Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Bärbel Bas (SPD), wie die Existenzsicherung in Zukunft gestaltet werden soll. Erste Ideen zur "neuen Grundsicherung" und politische Diskussionen zeigen jedoch bereits jetzt, dass es in Kürze wohl wichtiger denn je sein wird, an die verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Existenzsicherung zu erinnern.

Verfassungsrechtliche Herleitung des Existenzminimums

Nach der Rechtsprechung des BVerfG erwächst aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG das Recht eines jeden Menschen auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Es handelt sich um ein echtes Grundrecht und nicht bloß um eine staatliche Pflicht. Umfasst sind das soziokulturelle sowie das physische Existenzminimum. Während das soziokulturelle Existenzminimum die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß die Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben absichern soll, umfasst das physische Existenzminimum grundlegende Bedarfe wie Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Ernährung der Menschen. 

Der Umfang dieses Existenzminimums lässt sich nicht unmittelbar aus der Verfassung herleiten. Der Legislative steht vielmehr ein gewisser Spielraum bei der Ausgestaltung der existenzsichernden Leistungen zu, weshalb auch politische Aushandlungsprozesse ihren Weg in die Bestimmung des Existenzminimums finden. Der Prüfungsmaßstab des BVerfG ist daher beschränkt. Die Höhe des Bürgergeldes darf nach seiner Rechtsprechung lediglich nicht evident unzureichend sein, das Verfahren, mit dem der Regelbedarf ermittelt wird, muss nachvollziehbar und sachlich differenziert sein.

So steht es dem Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum nicht per se entgegen, sollte das bestehende System des Bürgergeldes gegen eine "neue Grundsicherung" ausgetauscht werden. Für eine Bewertung der Verfassungsmäßigkeit kommt es auf die konkrete Gestaltung dieser neuen Grundsicherung an. 

Nicht viel Spielraum für Kürzungen

Im Jahr 2025 erhalten alleinstehende Erwachsene einen Regelbedarf von 563 Euro monatlich, um ihren täglichen Lebensunterhalt zu sichern. Bereits jetzt werden diese Leistungen aus verfassungsrechtlicher Perspektive vielfach kritisiert. Diese Kritik hat ihren Ursprung vor allem in der zugrunde liegenden Berechnungsmethode. Denn die Höhe des Bürgergeldes orientiert sich derzeit an den Ausgaben der ärmsten 15 bzw. 20 Prozent –  alleinstehend oder Familie – der Haushalte in Deutschland.

Die Höhe des Regelbedarfs wird auf Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe festgelegt. Hierfür führt das Statistische Bundesamt alle fünf Jahre eine empirische Erhebung der durchschnittlichen Verbrauchsausgaben privater Haushalte in Deutschland durch. Die teilnehmenden Haushalte machen in Haushaltsbüchern Angaben zu ihrem Konsumverhalten, wie zu den Ausgaben für Lebensmittel, Kleidung oder Gesundheitspflege. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse wird dann der Regelbedarf ermittelt.

Die durch die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ermittelten Ausgaben der Referenzhaushalte werden in unterschiedliche Bedarfspositionen aufgeschlüsselt, die entweder als regelbedarfsrelevant (beispielsweise Lebensmittel oder Kleidung) oder als nicht regelbedarfsrelevant (beispielsweise Glücksspiel oder Haustiere) eingestuft werden. Maßgeblich bei dieser Einordnung ist, ob die Ausgaben nach staatlicher Auffassung der Sicherung des Existenzminimums dienen.

Doppelte Nullrunde und Regelbedarf ohne gesunde Ernährung

Diese Praxis wurde vom BVerfG zwar grundsätzlich gebilligt, aber auch von vielen kritisiert. So gibt es beispielsweise zahlreiche ernährungswissenschaftliche Studien, die aufzeigen, dass sich Bürgergeldbeziehende aufgrund der hohen Kosten einer gesunden Ernährung häufig nur so ernähren können, dass ihre Gesundheit geschädigt wird. Grund dafür ist unter anderem, dass die ärmsten 15 bis 20 Prozent bereits auf eine Unterstützung durch gemeinnützige Organisationen, wie der Tafel, angewiesen sind, dies bei der Berechnung des Regelbedarfs allerdings nicht berücksichtigt wird.

Das Berechnungsverfahren hat nach der Rechtsprechung des BVerfG einige Vorgaben zu berücksichtigen. Es muss transparent und sachgerecht sein, den tatsächlichen Bedarf der Leistungsbeziehenden berücksichtigen und das ermittelte Ergebnis fortdauernd überprüfen und weiterentwickeln. Kurz gesagt: bei der Festsetzung der Höhe der existenzsichernden Leistungen muss die Legislative empirische Daten berücksichtigen. Hieran müssen sich auch etwaige Reformpläne im "Herbst der Reformen" messen lassen.

Da der Regelbedarf erst nach einer neuen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe auch neu ermittelt werden kann, diese aber nur alle fünf Jahre durchgeführt wird, werden die Regelbedarfe in der Zwischenzeit jährlich fortgeschrieben. Hierbei werden nach einem Mischindex sowohl die Preisentwicklung aller regelbedarfsrelevanten Güter und Dienstleistungen als auch die Gehaltsentwicklung berücksichtigt. Um die Inflation einzupreisen, wird für die Preisentwicklung der regelbedarfsrelevanten Güter und Dienstleistungen der Zeitraum vom 1. April bis 30. Juni des Vorjahres dem gleichen Zeitraum des Vorvorjahres gegenüberstellt. Da die Inflation von April bis Juni 2023 abgeflacht war, wurde das Bürgergeld bereits 2025 nicht erhöht. Eine ähnliche Entwicklung führt auch zur nächsten "Nullrunde" in 2026.

Enge verfassungsrechtliche Grenzen für Sanktionen

Eine weitere Stellschraube der Sozialstaatsreformen sollen ausgeweitete Sanktionen sein. Da Menschen ihre Existenz vorrangig selbst sichern sollen (sogenannter Nachranggrundsatz) und der Staat verlangen kann, dass sie an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit mitwirken, sind belastende Sanktionen für diejenigen möglich, die diese Mitwirkung nicht erbringen. Insbesondere die oft genannten, aber in der Realität seltenen, "Totalverweigererinnen" und "Totalverweigerer" sollen durch eine vollständige Streichung des Bürgergeldes dazu bewegt werden, selbst für ihren Lebensunterhalt aufzukommen.

An dieser Stelle muss man kurz daran erinnern, dass das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum direkt aus der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) hergeleitet wird. Es bleibt deshalb auch dann bestehen, wenn sich ein Mensch vermeintlich "unwürdig" verhält. Nach der Rechtsprechung des BVerfG gilt das auch bei "persönlicher Schwäche" oder "Schuld". 

Erst im Jahr 2019 stellte das Gericht deshalb hohe Hürden für Sanktionen auf und prüft seitdem streng deren Erforderlichkeit und Angemessenheit. Entscheidend ist vor allem, dass die Legislative verlässliche Prognosen dazu hat, dass die Sanktionen die erwünschte Mitwirkung der Leistungsbeziehenden erreichen. Es ist außerdem zu berücksichtigen, dass ein auch nur vorübergehender vollständiger Entzug der Leistungen die Existenzgrundlage vollständig beseitigt. Der Staat muss daher sehr bedacht vorgehen und berücksichtigen, wer diese "Totalverweigererinnen" und "Totalverweigerer" sind, ob es ihnen tatsächlich möglich ist, ihre Hilfebedürftigkeit selbst zu beseitigen und welche Auswirkungen die Sanktion für sie hat. Nuancen, die man in der bisherigen politischen Debatte vergebens sucht. 

Rüge vom Ausschuss zum UN-Sozialpakt

Nicht nur das Grundgesetz macht Vorgaben zur Bestimmung des Existenzminimums. Die Bundesrepublik hat (unter anderem) auch nach Art. 9 i.V.m. Art. 11 Abs. 1 UN-Sozialpakt jedem Menschen ein menschenwürdiges Existenzminimum zu garantieren. Ob diese Vorgaben des UN-Sozialpaktes eingehalten werden, kontrolliert der zuständige Ausschuss in einem regelmäßigen Staatenberichtsverfahren, bei dem die Bundesrepublik über den aktuellen Stand der Umsetzung der Rechte aus dem UN-Sozialpakt berichten muss. 

Vergangene Staatenberichtsverfahren nahm der Ausschuss zum UN-Sozialpakt bereits in den Jahren 2011 und 2018 zum Anlass, die Höhe der sozialen Grundleistungen in Deutschland zu kritisieren. Er äußerte Zweifel, ob diese ausreichend seien, den Leistungsbeziehenden einen angemessenen Lebensstandard zu ermöglichen. Den Grund hierfür sah der Ausschuss in der Berechnungsmethode des Existenzminimums, die überprüft und verbessert werden solle. 

Möglicherweise muss sich der Ausschuss schon bald erneut mit dieser Frage beschäftigen. Seit der Ratifikation des Zusatzprotokolls zum UN-Sozialpakt im Jahr 2023 können Leistungsbeziehende Individualbeschwerden einreichen. Bürgergeldbeziehende können also bereits heute, nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges, die existenzsichernden Leistungen durch den Ausschluss überprüfen lassen. Das Ergebnis eines solchen Verfahrens müssten dann auch deutsche Gerichte beachten.

Es bleibt zu hoffen, dass die anstehenden Reformvorschläge die verfassungsrechtlichen Vorgaben hinreichend berücksichtigen und die politische Debatte vor diesem Hintergrund versachlichen. 

Dr. Annalena Mayr ist Referendarin am Brandenburgischen Oberlandesgericht und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder). Ihre Dissertation "Die menschenwürdige Existenz von Geflüchteten. Zwischen Rechtslage und Rechtswirklichkeit" erschien im September 2025 im Verlag Mohr Siebeck.

Die Autorin dankt Dr. Sören Deister und Shari Gaffron für ihre hilfreichen Anmerkungen.

Gastbeitrag von Dr. Annalena Mayr, 16. September 2025.

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